23.06.2002

Wer hat hier einen Schaden?: BGH faellt neues "Kind als Schaden"-Urteil

Karlsruhe (ALfA). Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am Dienstag eine Gynaekologin zur Zahlung des Unterhaltes fuer ein Kind mit Behinderungen verurteilt. Dies berichtet die "Sueddeutsche Zeitung" (Ausgabe vom 19.06.). Die Aerztin hatte bei den regelmaessigen Schwangerenvoruntersuchungen nicht erkannt, dass das Kind schwere Fehlbildungen an Armen und Beinen aufwies. Die Eltern des Kindes hatten geltend gemacht, dass sie, wenn sie ueber die Missbildungen informiert gewesen worden seien, sich fuer die Spaetabtreibung des Kindes entschieden haetten. Nach Angaben der Eltern muss der inzwischen fuenf Jahre alte Sebastian rund um die Uhr betreut werden. Aufgrund der fehlerhaften Diagnose habe die Aerztin den Behandlungsvertrag nicht ordnungsgemaess erfuellt. Wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtet dient der aerztliche Behandlungsvertrag (Ausgabe vom 19.06.) laut dem BGH in solchen Faellen nicht allein dem Zweck, die Gesundheit der Frau zu schuetzen, sondern solle sie auch vor Belastungen nach der Geburt bewahren. Deshalb urteilten die Richter, muesse die Aerztin nicht nur den durch die Behinderung des Kindes erforderlichen Mehraufwand ersetzen, sondern den gesamten Unterhaltsbedarf. Zusaetzlich wurde den Eltern ein Schmerzensgeld in Hoehe von 10.225 Euro zugesprochen. Den gesamten Streitwert bezifferte der BGH auf rund 266.000 Euro.

Die Bundesaerztekammer hat das Urteil des BGH scharf kritisiert. "Durch die Entscheidung des BGH haben diejenigen Recht bekommen, die den Menschen nach Mass progagieren", erklaerte der Praesident der Bundesaerztekammer Joerg-Dietrich Hoppe in Koeln. Hoppe kritisierte, damit werde indirekt die Abtreibung behinderter Kinder als Instrument propagiert. "Dieses Verstaendnis von Beliebigkeit menschlichen Lebens steht im krassen Gegensatz zum aerztlichen Berufsethos und den Wertvorstellungen einer humanen Gesellschaft", kritisierte Hoppe.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" Hubert Hueppe, teilte mit, das Urteil diskriminiere alle Menschen mit Behinderungen und setze Aerzte einem Druck zur Selektion aus, der mit aerztlicher Standesethik unvereinbar sei. Der "Schadensfall Kind" haette sich nur durch die vorgeburtliche Toetung des Kindes vermeiden lassen. Hueppe nannte es "ein verheerendes Signal", dass der BGH "bei vorgeburtlich diagnostizierter Behinderung des Kindes ein Recht auf Abtreibung mit medizinischer Indikation anerkennt." Die medizinische Indikation gilt unbefristet und laesst die Abtreibung bis zur Geburt zu. Eine Beratungspflicht gibt es nicht. Das Urteil mindere massiv den Lebensschutz fuer behinderte Ungeborene und schwaeche die gesellschaftliche Akzeptanz und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen. Die Praxis der eugenischen Abtreibungen mit medizinischer Indikation bis hin zur Spaetabtreibung lebensfaehiger Kinder habe die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu ihrem Antrag "Vermeidung von Spaetabtreibungen - Hilfen fuer Eltern und Kinder" (Bundestagsdrucksache 14/6635) veranlasst. Hueppe: "Es ist voellig unverstaendlich, wie die rot-gruene Mehrheit die interfraktionellen Gespraeche unter Federfuehrung von Inge Wettig-Danielmeier (SPD) verschleppt und alle ernsthaften Verbesserungsvorschlaege abgelehnt hat."

 

Die Bundesvorsitzende der "Aktion Lebensrecht fuer Alle" (ALfA), Claudia Kaminski sagte, das Urteil zeige, wie noetig eine Reform des § 218 sei. "Mit dem Urteil werden behinderte Kinder als Schaden deklariert. Das kann nicht richtig sein und widerspricht Artikel 3 Abs. 3. Satz 2 GG, demzufolge niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Wenn Menschen mit Behinderungen als Schaden betrachtet werden, Menschen ohne aber nicht, dann ist das eine Diskriminierung, die das Grundgesetz ablehnt und die auch der Gesetzgeber bei der Reform des § 218 im Jahr 1995 nicht gewollt hat", zitiert die katholische Zeitung "Die Tagespost" (Ausgabe vom 20.06.) Kaminski. Damals haetten Politiker aller im Bundestag vertretenen Parteien klar gestellt, dass eine Behinderung kein Grund fuer eine Abtreibung ist. Um dem Nachdruck zu verleihen, sei die bis dahin geltende embryopathische Indikation gestrichen worden. "Dass sie durch die Hintertuer der medizinischen Indikation kommt, darf nicht geduldet werden und muss durch eine entsprechende Aenderung in das Gesetz hineingeschrieben werden", so Kaminski weiter.

Die Bundesvorsitzende der "Christdemokraten fuer das Leben" (CDL), Johanna Graefin von Westphalen kritisierte in einer Presseerklaerung, das Urteil zwinge "Aerzte aus Selbsterhaltungsgruenden dazu, kuenftig bei kleinsten Auffaelligkeiten im Rahmen der Praenataldiagnostik zur Toetung des Kindes zu raten" und fragte, "wie viele gesunde Kinder werden wegen der sich weiter ausbreitenden "Sicher ist sicher"-Mentalitaet zusaetzlich getoetet?" Da der BGH sich in seinem Urteil auf die medizinische Indikation des Abtreibungsgesetzes stuetze, sei eine Gesetzesnovelle dringen geboten.