28.08.2023
Ukrainekrieg: Mehr als 500 Menschen in 14 Fahrten evakuiert
Erfahrungsbericht zu Evakuierungs-Fahrten und Freizeiten mit Menschen mit Handicap
Der Sommer geht zu Ende. Im ganzen Land gab es viele Freizeiten. Haben sie Menschen mit Behinderung Freizeit dabeigehabt?
Ein persönlicher Bericht von Hüg Oesch
Mit Illia und anderen in Frankreich...
© Hüg Oesch
Als Busfahrer in die Ukraine
Mein Name ist Hüg und ich bin 56 Jahre alt, seit 33 Jahren verheiratet und Vater von 3 erwachsenen, großartigen Söhnen. Von Kindheit an gehe ich jeden Sonntag in eine evangelische Gemeinde. Seit sehr vielen Jahren diene ich mit meinen Gaben in der Gemeinde, sei es auf Kinder- Jugend- und Männerfreizeiten, sei es in der Flüchtlingsintegration oder in der Seelsorge usw... Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung habe ich eher selten gemacht, einerseits, weil es wenig Menschen mit Behinderung in unserer Gemeinde gab und gibt, andererseits, weil es andere geeignetere Mitarbeiter für diesen Dienst gab und immer noch gibt.
Letztes Jahr, zu Beginn des Ukrainekrieges, bin ich sehr kurzfristig gefragt worden, ob ich als Busfahrer in die Ukraine fahren möchte, um Menschen mit Behinderung aus dem Krisengebiet nach Deutschland oder den Niederlanden zu bringen. Die Anfrage kam von Martina, Leiterin des Arbeitskreises Perspektivforum Behinderung der EAD. Es gab eigentlich kaum Bedenkzeit, trotzdem hatte ich viele Fragen, wie z.B.: Sind Ärzte dabei? Wie verständige ich mich mit den Leuten? Um welche Art der Behinderung handelt es sich? Was sind ihre Bedürfnisse? Wie kommen sie in den Bus? Wie ins Bett? Wie sieht es mit Ernährung aus? Wie gehen diese Menschen auf die Toilette? Welche Hilfe muss ich ihnen dabei geben? Bin ich versichert? Was passiert, wenn ich einen Fehler mache? Wäre es nicht eine Krisensituation gewesen, hätte ich viele Gründe gehabt, abzusagen. „Ich habe keine Erfahrung, ich brauche Schulungen. Ich möchte mir erst ein passendes Team zusammenstellen…“ Geplant war eine Fahrt, es wurden dann für mich 5 Fahrten und meine Erfahrungen waren sehr intensiv und absolut positiv. Allein darüber könnte ich mehrere Seiten schreiben. Mit vielen Passagieren bin ich bis heute in Kontakt. Ich habe erlebt, wie Gott für alles sorgt, wie ich in Zeichen- und Körpersprachen aber auch mit Google Translator mit meinen Passagieren kommunizieren konnte. Martina Köninger hat einen Blog geschrieben, in dem man nachlesen kann, was wir alle zusammen dort erlebt haben, die verschiedenen Fahrer, die Organisatoren im Hintergrund, Spender und Beter. Insgesamt fanden über 11 Fahrten statt und über 500 Menschen wurden evakuiert. Ermutigt durch diese genialen Erfahrungen, bin ich weiterhin ein Lernender im Arbeitskreis Perspektivforum Behinderung der EAD, den Martina leitet.
Erfahrungen und Freizeiten mit Menschen mit Behinderung?
Das normale Leben und meine klassischen Dienste in der Gemeinde finden nach wie vor statt. Aber was hat sich, nach meinen Fahrten in die Ukraine, geändert? Durch meine sehr positiven und ermutigenden, intensiven Erfahrungen mit Menschen Behinderung, bin ich entspannter und mutiger im Umgang mit diesen lieben Menschen geworden. Als Christen dürfen wir lernen und das Erlernte weiter mit einbringen. Wie sieht das konkret bei mir aus? Ich bin ein Freund der kleinen Schritte:
- Beim wöchentlichen Einkauf fallen mir häufiger Menschen mit Behinderung auf, öfters frage ich jetzt, ob ich Ihnen etwas oben aus dem Regal anreichen darf oder ob ich beim Einladen der Einkäufe ins Auto behilflich sein darf. Noch nie habe ich eine blöde Antwort erhalten, in Gegenteil, die Begegnungen waren sehr angenehm.
- Ein ukrainisches Ehepaar mit einem 22-jährigem Sohn mit einer spastischen Behinderung, hatte Schwierigkeiten eine Wohnung zu finden. Seit über einem Jahr wohnen diese netten Leute bei uns in der Einliegerwohnung und ihr Sohn bei uns im Haus. Ihr Sohn Illia ist ein richtig netter Kerl mit viel Humor und mit seinen Eltern haben wir die besten Mieter, die man sich wünschen kann. Illia liebt es, den Rasen zu mähen und wenn wir im Urlaub sind, ist er der Hausmanager und kümmert sich um unsere Post und die Mülltonnen, Annahme von Päckchen…. Er fotografiert unsere Post ab und schickt uns alles per Messenger zu.
- Seit vielen Jahren organisiere ich im Team Jugendfreizeiten und Männerfreizeiten. Bei den letzten 4 Freizeiten habe ich nun jedes Mal einen Teilnehmer mit Behinderung eingeladen. Die Erfahrungen waren absolut positiv. Sowohl für die Mitarbeiter als für die Teilnehmer waren es schöne Freizeiten. Unsere Jugendlichen, aber auch die Männer auf der Männerfreizeit sind extrem entspannt mit dem Teilnehmer mit Behinderung umgegangen. Illia, unser Mithausbewohner, war auf den Freizeiten voll integriert. Ich hatte eingeplant, viel Zeit mit ihm zu verbringen und mich um ihn zu kümmern, habe ihn aber kaum zu Gesicht bekommen. Illia war in den unterschiedlichsten Gruppen mit Jungs und Mädchen unterwegs, konnte genau einschätzen, was er kann und was nicht. Es wird so langsam zur Normalität, dass ich das Thema bei den Freizeitplanungen anspreche und eigentlich ist auch niemand dagegen.
Nach meinen großen Schritten als Busfahrer in der Evakuierung im Ukrainekrieg, gehe ich nun ermutigt weitere kleine Schritte. Wie sich das mit unseren Freizeiten weiterentwickeln wird, weiß ich noch nicht, ob wir irgendwann auch Rollstuhlfahrer oder Blinde mitnehmen können, weiß ich nicht. Ich wünsche mir aber, dass es zur Normalität wird. Während ich hier am PC sitze und ich diese Zeilen schreibe aber auch die nächste Freizeit am Vorbereiten bin, läuft draußen der Rasenmäher. Illia ist wieder aktiv. Und in einer Woche geht es dann wieder los, die nächste Männerfreizeit im Nationalpark Grand Canyon du Verdon in Südfrankreich und Illia wird wieder mit dabei sein, wir teilen uns ein Zimmer.
Hüg Oesch
Der Arbeitskreis PerspektivForum Behinderung freut sich, wenn sich Leute direkt melden, die Erfahrungen mit Freizeiten haben, in denen sie Kinder, Jugendliche oder Erwachsene mit Behinderung inkludiert haben oder wenn sie offen dafür sind und das in Zukunft umsetzen möchten. Wir bieten hier gerne Vernetzung an, damit in Zukunft noch mehr Inklusion möglich wird andere von den jeweiligen Erfahrungen profitieren können.