12.06.2019

„Im Wesentlichen sind wir eins“

Nach 31 Jahren als Generalsekretär: Ein Bilanz-Interview mit Hartmut Steeb

Er hat die Deutsche Evangelische Allianz geprägt wie kein anderer: Vom 1. April 1988 bis 12. Juni 2019 amtiert Hartmut Steeb als Generalsekretär. Der 65-Jährige ist verheiratet mit Angelika, hat zehn Kinder und 17 Enkelkinder

Hartmut Steeb im Interview

Nach 31 Jahren als Generalsekretär ist die Ziellinie in Sicht. Mit welchen Gedanken blickst du nach vorn?
Ich schau zuerst zurück, voller Dankbarkeit. Dass ich dieses Amt so lange ausüben durfte, war nicht vorgesehen. Ich bin von Haus aus Verwaltungsbeamter, Diplom-Verwaltungswirt. Als ich gefragt wurde, stand ich im Dienst der Evangelischen Landeskirche in Württemberg – und die Evangelische Allianz wollte mich damals für zehn Jahre, die Landeskirche erstmal nur fünf und dann höchstens nochmal drei Jahre freistellen. Ich hab kirchliche Arithmetik gelernt: 5 plus 3 gibt 31 (lacht). Zur Zukunft: Ich find es schön, dass Gott uns Tag für Tag leitet und schau mit Freude nach vorn; ich bin kein großer Langzeitplaner.

Nach Lebensjahren gerechnet, warst du nur wenig mehr als die Hälfte deines Lebens nicht Generalsekretär. Wie kommt man in dieses Amt?
Da sehe ich Gottes Wirken in besonderer Weise. Ich bin 1970 auf einer Freizeit zum lebendigen Glauben an Jesus Christus gekommen. In der Ludwig-Hofacker-Gemeinde in Stuttgart, wo ich noch heute bin, haben wir dann gesagt: Die Jugendarbeit muss christuszentrierter werden! In dieser Situation kam ein neuer Gemeindepfarrer zu uns, Winrich Scheffbuch, der mir gerade dafür den Horizont geweitet hat: Ich hab ehrenamtlich die Jugendarbeit geleitet, über 20 Jahre, zwei große Jugendevangelisationen organisiert – und dann kam die Anfrage, den „Gemeindetag unter dem Wort“ im Stuttgarter Stadion zu organisieren: 29. Mai 75, so einen Tag vergisst man nicht! Es war fantastisch: 40.000 Besucher, Festredner war der anglikanische ugandische Erzbischof Festo Kivengere, leitend in der Afrikanischen Evangelisationsbewegung tätig ... Das war mein Gesellenstück. Acht Monate war ich dafür beurlaubt von der Landeskirche. Als ich am 1. Juni zurück war im Evangelischen Oberkirchenrat, war klar:
Jetzt hab ich meine Karriere hinter mir. Größer geht es nicht. Es ging aber weiter: Ich wurde in die Stuttgarter Allianz berufen, habe ab 1976 die Geschäftsführung übernommen, ehrenamtlich, habe mich auch bundesweit eingebracht und dann kam 1987 die Anfrage, die bundesweite Geschäftsführung zu übernehmen.

Hattest du eine Vorstellung von der Aufgabe? 
Es gab keine „job description“; ich sollte Evangelische Allianz stärker organisieren, strukturieren. Ich hab dann viele Einladungen von örtlichen Allianzen wahrgenommen. Das war mir ganz wichtig. Lokal muss man zusammenfinden. Da muss sich Evangelische Allianz gestalten und bewähren. Dazu kamen weitere Großprojekte: 1989 noch ein „Gemeindetag unter dem Wort“. Gleichzeitig kam die Bitte, in der Lausanner Bewegung, Deutscher Zweig, die Delegation für die Internationale Lausanner Konferenz 1989 in Manila mit zusammenzustellen. Und ich sollte den Evangelisationskongress vorbereiten, der dann im Oktober 1990 in Stuttgart stattgefunden hat.

„Zwischendrin“ lag der Mauerfall von 1989 … 
Das kam plötzlich, nach nur 19 Monaten meiner Amtszeit – und war verbunden mit der Erkenntnis: Wir müssen was tun für Evangelisation! Wir haben uns dann einigen können, Billy Graham einzuladen: zu einer Großevangelisation vorm Reichstag, am 10. März 1990, eine tolle Herausforderung! Darauf folgte der Evangelisationskongress im Oktober, der uns geholfen hat, als Christen in Deutschland das Gemeinsame in der Evangelisation zu suchen.

Mit der Wende in Deutschland kam auch eine Riesenveränderung für die Deutsche Evangelische Allianz: Der Westen hat sich damals dem Osten angeschlossen. Wie hast du diese Zeit erlebt? 
Ich war 1988 bei der Konferenz, auch 89 – und tief beeindruckt: Hier wurde ein Stück Vision Evangelischer Allianz deutlich. Und: 1989 waren 82% der 5.000 Konferenzgäste unter 25 Jahre alt. So steht’s in den Akten des Staatssekretariats für Kirchenfragen. Darum war, als die Mauer aufging, sofort klar: Wir müssen partizipieren von Evangelischer Allianz im Osten, hier ist Allianz lebendig, auch in der jungen Generation. Und mir war klar: Wir müssen die Geschwister, die unter schwierigen Bedingungen über Jahrzehnte diese Arbeit gemacht haben, stärken! Und dann hat sich die Allianz West der Allianz Ost angeschlossen: Der Vereinssitz wurde von Stuttgart nach Bad Blankenburg verlegt.

Hat sich die Entscheidung als richtig erwiesen? 
Ja, zu 100%. Das hat das notwendige Vertrauen geschaffen. Ich glaub, nur wenige haben die deutsche Vereinigung langfristig so gut bewältigt wie die Evangelische Allianz. Das hat auch zu tun mit dem vertrauensvollen Miteinander der damals Verantwortlichen im Komitee der DDR und im westdeutschen Allianzvorstand. Sowas geht immer nur, wenn alle das auch wollen. Aber es war klar: Hier ist Allianzgeschichte präsent. In Bad Blankenburg ist bis heute die älteste, jährliche Bibel- und Glaubenskonferenz zuhause. Wir gehören hierher. Das Evangelische Allianz-Komitee der DDR hat auch gesagt: Die Bad Blankenburger Konferenz muss bestehen bleiben. Das Allianzhaus muss bestehen bleiben. Und: Steeb muss Generalsekretär der gesamtdeutschen Allianz sein.

So kam es dann auch. In den 1990ern folgte eine Reihe wichtiger Entwicklungen, bei denen du immer in Leitungsämtern dabei warst: ProChrist 1993, Christival 1996, Willow Creek und dann ab 1996 Gründungs-Vorsitzender von SPRING, dem neuen Gemeinde-FerienFestival in Deutschland ... 
Bei SPRING haben wir ein gemeinsames neues Projekt entwickelt. Ich hab damals gesagt: Ich möchte gern ein Festival, eine postmoderne Glaubenskonferenz für die 0- bis 100-Jährigen. Und wir erreichen inzwischen wirklich alle Generationen. Das find ich ganz entscheidend wichtig: Gemeinde Jesu ist Gemeinde aller Generationen, aller Nationen, aller Kulturen. Das ein Stück zusammenzubringen, ist uns bei SPRING modellhaft gelungen.

Wenn du einen Bogen schlägst, auch dein langjähriges Engagement in der Lausanner Bewegung, der heutigen „Koalition für Evangelisation“, einbeziehst, welches waren die bewegendsten Momente deiner Arbeit? 
Das ist schwierig, es sind so viele. Wenn ich es versuchen sollte, dann würd ich sagen: der Gemeindetag unter dem Wort 75, der hineinragte in meine jetzige Tätigkeit. Der Evangelisationskongress 1990, Billy Graham, … Und dann will ich sagen: dass wir endlich ein „Leuchtturm-Projekt“ in Sachen Lebensschutz machen konnten, den „Marsch für das Leben“, den ich 2002 mit initiiert hab. Und das noch: 1989 gab’s den 2. Lausanner Kongress in Manila. Das Zusammenwachsen dort hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass wir aus manchen „Schützengräben“ rausgekommen sind. Wir haben uns an einem Abend als deutsche Delegation getroffen, weil wir gemerkt haben: International läuft es zum Teil leichter zwischen charismatischer, Pfingstbewegung und „Allianz-Evangelikalen“. Dabei klagte einer über die „Betonfraktion der Allianz“. Darauf hab ich gesagt: Erstens: ich bestreite, dass es die Betonfraktion gibt. Und zweitens, wenn es sie gibt, erkläre ich sie hiermit für aufgelöst. Das war ein Dammbruch. Denn die Frage ist doch: Wie können wir heute, mit den heute handelnden Personen, Gemeinschaft der Kinder Gottes leben?

Die Deutsche Evangelische Allianz und der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden haben 1996 dann die gemeinsame, verbindende „Kasseler Erklärung“ abgegeben. Wie kam es dazu?
Es gab schon seit den 1980ern Gespräche zwischen pfingstkirchlich orientierten Christen und „Allianz-Evangelikalen“ und Pietisten, auch durchaus gute Erklärungen. Aber es blieb eine Distanz. Nach der Wende gab es dann ein besonderes Gespräch des Geschäftsführenden Vorstands mit Vertretern des Mülheimer Verbands: Man redete über viele theologische Fragen – und war sich eigentlich in allem einig. Da sagte ein lieber Bruder: Jetzt müssen sich nur die Verantwortlichen des Mülheimer Verbands aus dem Weltpfingstverband lösen, dann können wir unbeschwert Allianzgemeinschaft haben. Da bin ich als Landeskirchler zusammengezuckt. In der Evangelischen Allianz in Deutschland sind wir seit 1846 dabei geblieben, dass wir eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern sind – und keine Kirchengemeinschaft. Darum darf ich nicht plötzlich sagen: Aber bei euch zählt jetzt die Kirchengemeinschaft! Ich muss sie als Personen beurteilen. Das ist ein wichtiger Punkt für Evangelische Allianz insgesamt, das gilt heute im Blick auf Katholiken, Adventisten, Neuapostolische Kirche, überhaupt alle Kirchen. Und dann haben wir gesagt: Lasst uns die eigentlichen Fragen stellen! Der Arbeitskreis für evangelikale Theologie unter Leitung von Rolf Hille, dem späteren Allianzvorsitzenden, hat dann intensiv gearbeitet zu verschiedensten Fragestellungen. 

Und in anschließenden Gesprächen mit dem Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden konnten wir alle Fragen so klären, dass wir gesagt haben: Im Wesentlichen sind wir eins.
Es gibt Punkte, da sind wir uns nicht einig, aber das können wir aushalten. Wenn wir das Einende betonen, dann verliert das Trennende seine Kraft.

Welchen Stellenwert hatte die Erklärung? Hat sie sich weiter ausgewirkt? 
Es ist heute selbstverständlicher, dass wir zusammengehören. Die erstrangigen Fragen bestimmen die Tagesordnung des Miteinanders – die Christuszentriertheit, unsere Glaubensbasis. Wenn wir darin einig sind, dann können wir uns in anderen Fragen Freiheit lassen. Das gilt auch im Verhältnis zur Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, das war sehr schwierig, bis spät in die 80er Jahre. In den 90ern ist es gelungen, vieles aufzubrechen, z.B. durch ein gemeinsames Jahr mit der Bibel.

Außerdem wurde der Hauptvorstand in den vergangenen Jahren erweitert: Es gehören jetzt mehr charismatische und pfingstkirchliche Christen, messianische Juden … dazu. Sind Hartmut Steeb und die Evangelische Allianz „Brückenbauer“? 
Wir müssen die Brücken gar nicht bauen, die baut unser Herr – wir müssen sie nur begehen. Wir müssen die Einheit nicht schaffen, die hat Jesus erbetet, sie ist längst da. Es kommt nicht drauf an, in welcher Glaubensherberge, sondern dass man bei Jesus zuhause ist. Und ich möchte gern mit den Menschen, mit denen ich die Ewigkeit verbringen werde, heute schon zusammenleben. Das Geschenk der Einheit auszupacken, zu gestalten, das ist Aufgabe der Evangelischen Allianz.

Die Evangelische Allianz ist Gebetsbewegung, Einheitsbewegung, mit markanten Bibelkonferenzen. Du bist viel unterwegs – siehst du Auswirkungen im Land? 
Ich gehör zu den Menschen, die in der Analyse zurückhaltend sind. Aber ich bin überzeugt: Wenn Menschen beten, verändert das mindestens die Beter. Wir haben in den Gebetswochen in den letzten Jahren viele Impulse gegeben: Betet in Rathäusern, in Krankenhäusern, bei der Polizei! Für Gott macht es keinen Unterschied, wo wir was beten – aber für uns! Ich kann mich ganz anders hineinversetzen in die Situation. Es geht darum: Wie lass ich mich prägen? Deshalb wollen wir Gebetsbewegung sein, das ganze Jahr über, im Gebet miteinander verbunden. Darüber hinaus sind wir Einheitsbewegung – mit einer klaren Zielorientierung: „… damit die Welt glaube, du habest mich gesandt“ (Johannes 17). Evangelische Allianzen müssen Missionskartelle sein. Das gehört zum Urauftrag von Christen. Und sie sollten, neben dem Beten, neben der Bibelorientierung, neben der Evangelisation sich auch in die Gesellschaft einbringen, als Licht und Salz der Erde.

Du bist Schwabe, lebst zeitlebens in Stuttgart, geprägt vom württembergischen Pietismus. Welche Bedeutung hat Heimat für Hartmut Steeb? 
Das prägt einen sehr. Ich bin in einem altpietistischen Elternhaus großgeworden. Unser geistliches Familienleben war klar geprägt: jeden Morgen die „Losung“, eine Seite aus dem Andachtsbuch. Mittags Neukirchener Kalender, Vorder- und Rückseite. Am Abend hat mein Vater die Bibel aufgeschlagen, Lutherbibel 1912, und ein Kapitel vorgelesen, von 1. Mose 1 bis Offenbarung 22. Und danach ging’s von vorn los. So hab ich von klein auf ein paar Mal die Bibel durchgehört, bevor ich das Elternhaus verlassen hab. Und sonntags gingen alle zusammen, auch der dreijährige Bub, in den Gottesdienst, anschließend Kindergottesdienst, am Nachmittag Gemeinschaftsstunde. Der Tag war strukturiert.

Inzwischen ist das Evangelische Allianzhaus Bad Blankenburg eine zweite Heimat für dich geworden. Zu diesem Kapitel gehört, dass ihr vor Jahren viel Geld in den Umbau investiert habt, und der Bau teurer wurde und länger dauerte als veranschlagt: eine hohe Belastung! 
Natürlich. Die Planung wurde von der Wirklichkeit ein stückweit überholt, wie in vielen Projekten: Wir hatten mit 3,6 Millionen Euro geplant, am Ende waren es 5. Im Grunde kauen wir an diesen 1,4 Millionen noch immer rum. Aber es ist ein Wunder, dass wir das überhaupt machen konnten! Und in Abhängigkeit von Gott bleibt man beim Beten, beim Hören und Staunen.

Es gibt viele christliche Zentren in Deutschland. Was ist das Besondere am Evangelischen Allianzhaus
Bad Blankenburg ist im Osten Deutschlands auf diesem Niveau die größte christliche Tagungsstätte. Die Einheit ist ein riesengroßes Geschenk Gottes, das muss gestaltet werden. Dies ist ein uns von Gott zugewiesener Ort. Wir haben hier einen Auftrag. Hier kann man gemeinsam miteinander Glauben leben. Und: Wir liegen zentral in Deutschland, mit einem Autobahnring rings um Bad Blankenburg: der A9, der A4, A71 und A73; Erfurt, nur eine Stunde weg, hat einen ICE-Bahnhof.

Alle, die dich kennen, wissen: Du bist ein Tag- und Nachtarbeiter; Mails von dir kommen oft mitten in der Nacht. Wieviel Arbeitsstunden hat deine Woche? 
Ich sag es mal so: Ich liebe die 40-Stunden-Woche so sehr, ich mach sie gerne zweimal. Eines meiner Mottos ist: Wer seine Arbeit liebt, kann sich viele schöne Stunden machen. Also, ich lass mich von Aufgaben herausfordern. Aber ich bin kein Perfektionist und weiß, dass ich viele Baustellen hinterlassen werde.

Was bedeutet so ein Arbeitsstil für die Gesundheit? Wie verkraftet man das auf Dauer? 
Das zu beurteilen übersteigt bei weitem meine ohnehin eingeschränkten Kompetenzen. Ich weiß es nicht. Ich empfinde, dass es mir heute besser geht als vor 30 Jahren. Besser hören wär manchmal gut. Ich hab vor ein paar Jahren einen Hörsturz erlitten, da haben natürlich Leute gesagt: Das hast du jetzt davon! Ich hab den Arzt gefragt, ob das mit zu viel Arbeit zusammenhängen könnte. Da sagt er: „Sie machen nicht den Eindruck, dass Sie unter Ihrer Arbeit leiden, deshalb arbeiten Sie, so viel Sie wollen!“ Ich persönlich nehme es sehr ernst, dass ich meiner Lebenslänge nicht eine Elle zusetzen kann, auch wenn ich mich noch so sehr darum sorge.

Die Arbeit in der Evangelischen Allianz geschieht viel über die mittlerweile 13 Arbeitskreise: von „Gebet“, „Religionsfreiheit, Menschenrechte, verfolgte Christen“ bis zu „Migration und Integration“, „Politik“ oder „Frauen“. Was sagen sie über die inhaltlichen Schwerpunkte der Allianz? 
Solche Arbeitskreise gründen wir, wenn wir den Eindruck haben, hier ist ein Feld, das wir intensiver beackern müssen. Hier arbeiten etwa 100 Fachleute ehrenamtlich mit, neben Mitgliedern aus dem Vorstand. Wir versuchen das zu bündeln und zu publizieren – damit örtliche Allianzen auch Themen anpacken können, die sie alleine nicht bewerkstelligen könnten.

Ist der Generalsekretär in Arbeitskreisen auch dabei? 
Laut Satzung sind die Vorsitzenden und der Generalsekretär zu allen Arbeitskreisen eingeladen. Meine Aufgabe ist es, zu koordinieren, zu schauen, dass sich das im Sinne Evangelischer Allianz entwickelt, zu begleiten. Ich habe noch die Arbeitskreise „Migration und Integration“ und „Politik“ geleitet, konnte inzwischen aber fast alle Leitungen abgeben.

… für Politik gibt’s ja auch extra einen hauptamtlich Beauftragten …
Ja, das ist auch gut so. Wir haben auch einen Referenten für Migration und Integration. Aber wir denken, dass die Hauptamtlichen nicht selbst die Arbeitskreise leiten sollten, weil diese den Dienst der Hauptamtlichen begleiten sollten, auch als Beiräte.

Du bist ein politischer Kopf, hast in deiner Amtszeit (fast) drei Kanzler überlebt: Kohl, Schröder und Merkel. Hast du alle persönlich getroffen? 
Nein, Gerhard Schröder gab uns nie einen Termin für ein Gespräch. Mit Kohl hatten wir persönliche Begegnungen, auch mit Angela Merkel, übrigens schon in ihren früheren Ämtern.

Und worum ging’s? 
Um Fragen, die gerade aktuell waren. Wir haben natürlich auch immer die Lebensschutzfrage angesprochen; im ersten Gespräch mit Angela Merkel ging’s intensiv um Familienpolitik; aber es ging auch um das Thema Religionsfreiheit, Islam u.a.. Es geht um die grundethischen Fragen. Wichtig sind auch Gespräche mit einzelnen Politikern; mit den kirchenpolitischen Sprechern aller Fraktionen versuchen wir im regelmäßigen Austausch zu sein.

Man kommt an Hartmut Steeb nicht vorbei, ohne über das Thema Lebensrecht und Familienpolitik zu sprechen.
Du streitest vehement für das Lebensrecht vom Anfang bis zum Ende, für die klassische Ehe und Familie.
Warum sind diese Fragen so wichtig? 

Es kann für Menschen kein wichtigeres Thema geben als das Leben selbst. Und es gibt keine schlimmere Menschenrechtsverletzung als das private Töten von Menschen, in der Abtreibung, 57-millionenmal weltweit, jährlich. Diese Menschenrechtsverletzung könnte man am leichtesten abstellen. Deshalb müsste man den größten Stellenwert darauf legen, menschliches Leben in allen Bereichen absolut zu schützen. Zweitens: Ehe und Familie sind seit Jahrtausenden die wichtigste Stellschraube für eine gesunde gesellschaftliche Orientierung. In der kleinsten Zelle der menschlichen Gemeinschaft muss es funktionieren. Deshalb müsste auch dies besonders gefördert werden.
Eine Umdefinierung von Ehe und Familie, bis dahin, dass auch zwei Mütter oder zwei Väter als Eltern gelten; dass künstliche Befruchtung so gefördert wird, dass es zu einer großen Ausbeutung von Frauen kommen wird; dass durch Leihmutterschaft das Kind zur Ware heruntergestuft wird – das halte ich für eine menschliche Gemeinschaft für fatal. Dem müssen wir entgegensteuern. Eine dritte Herausforderung sehe ich in der Frage von Meinungsfreiheit: Dürfen wir eigentlich noch Meinungs- und Glaubensfreiheit in unserem Land leben? Wenn Leute den Mund halten vor Sorge, sie würden benachteiligt, dann wird es schwierig.

Wir können die Punkte hier nicht ausdiskutieren. Weil wir aber im Rahmen der evangelikalen Bewegung in Deutschland sprechen: Es ist kein Geheimnis, dass viele sagen, die Lebensrechts-Dominanz ist zu groß. Verstehst du diejenigen, die das sagen? 
Nein. Ich bestreite eine zu große Dominanz. Ich würde streiten darüber, ob’s eine wichtigere Frage gibt als das Lebensrecht. Aber unser Gespräch zeigt doch, dass wir auch ganz andere Themen verhandelt haben. Ich habe in den 31 Jahren nur einen Bruchteil auf Lebensschutzfragen verwendet. Ich bedaure eher, dass wir so wenig tun in Sachen Lebensschutz. Ich hab den Eindruck, dass der Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz in seiner großen Mehrheit die Positionen von mir teilt. Unsere schriftlichen Stellungnahmen zum Lebensrecht wurden alle weithin einstimmig beschlossen. Da gehe ich davon aus, dass auch alle dahinterstehen. Natürlich war ich als Generalsekretär das Sprachrohr ...

… aber selbst innerhalb der evangelikalen Szene sagen viele: Allianz? Äußert sich vor allem zum Lebensrecht, zu Ehe und Familie …
Naja. Die Micha-Initiative hat am Anfang groß Furore gemacht. Nur: Wenn du im Mainstream der öffentlichen Meinung bist, wie bei der Micha-Initiative, dann brauchst du dich nicht zu wundern, dass da wenig wahrgenommen wird. Wo man aber eine andere als die Mainstream-Position vertritt, da wird man wahrgenommen. Und es ist doch schön, wenn die Themen aufgenommen werden, die nicht jeder sagt.
 
Wir müssen weiter und knüpfen nochmal an die Familie an. Wie hat Familie Steeb gelebt mit einem Papa, der immer unterwegs war? 

Also, wir haben keine besonderen Rituale gehabt. Wenn ich da war, war ich da. Natürlich habe ich immer versucht Kontakt zu halten, und ganz gewiss bin ich in manchen Punkten meinen Kindern und meiner Frau nicht gerecht geworden. Das kann man nur mit einem nichtperfektionistischen Ansatz überleben. Ob’s gelungen ist, das müsste man auch meine Frau und meine Kinder fragen – die das sehr unterschiedlich sehen. Ich gehe davon aus, dass das Leiden meiner Familie insgesamt begrenzt war.

Und welche Rolle hat deine Frau gespielt? 
Eine entscheidende! Ohne ihre Zustimmung wäre das alles nicht möglich gewesen. Es gab Zeiten, als die Kinder kleiner waren, wo wir auch mal an Grenzen waren und ich gesagt hab: Wenn das nicht geht, dann werd ich lieber meinen Job aufgeben, als dass wir die Familie aufs Spiel setzen. Die Familie ist für mich sehr viel wichtiger als die Berufsaufgabe. Ich hab beides immer als Berufung erlebt.

Versuchen wir eine Bewertung. Zuerst: Ist es gut, wenn eine Person 30 Jahre lang ein Amt innehat? Oder sollte man die Zeit begrenzen? 
Ich glaube nicht, dass man das grundsätzlich begrenzen muss. Ich hab mich sehr dafür eingesetzt, nachdem ich unbefristet beurlaubt war von der Landeskirche, in der Satzung festzulegen, dass auch der Generalsekretär auf sechs Jahre gewählt wird. Ich find es sehr gesund, alle paar Jahre Inventur zu machen: Will ich denn wirklich noch? Und wollen die anderen noch? Dann merkt man, wie hoch die Zustimmung ist. Ich glaube, wenn ich mal unter 85%, 80% gefallen wäre, hätte ich wahrscheinlich mein Amt aufgegeben. Das kann man auf Dauer nur ausüben in einem ganz breiten Konsens.

Die Themen der Evangelischen Allianz sind durchweg theologischer Natur. Wäre es nicht gut, wenn der Generalsekretär auch theologisch ausgebildet wäre? 
Es wäre nicht unbedingt ein Schaden. Die Evangelische Allianz war allerdings von Anfang an auch eine Laienbewegung. Der am längsten amtierende Vorsitzende, Andreas Graf von Bernstorff, war im diplomatischen Dienst und hat 36 Jahre lang die Allianz geführt. Ich halte viel davon, dass nichtstudierte Theologen auch Leitungsämter in evangelikalen Werken übernehmen können. Ich bin eingestellt worden, um die Organisation voranzubringen. Dann haben die Vorsitzenden mich immer wieder auch mit anderen Aufgaben betraut. Ich wurde eingeladen zum Predigen und zu Vorträgen. Abgesehen davon: Wir haben viele Theologen in den Arbeitskreisen und im Hauptvorstand.

Apropos Vorsitzende: Du hast mit sieben Allianzvorsitzenden zusammengearbeitet, von Fritz Laubach bis Ekkehart Vetter, aktuell. Wie war die Zusammenarbeit? 
Die Herausforderung war, dieses Amt zu übernehmen mit den Veränderungen nach 1989, mit denen kein Mensch gerechnet hat. Deshalb war die Zusammenarbeit mit Fritz Laubach und dann mit Jürgen Stabe in besonderer Weise prägend. Ich würde sagen, insgesamt war es ganz überwiegend ein ausgesprochen gutes Zusammenarbeiten. Ich bin sehr, sehr dankbar für ein großes Vertrauen. Ich hab mich oft mit den Vorsitzenden blind verstanden und denke, das ist auch umgekehrt so gewesen. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wir haben über vieles gesprochen, das gelungen ist. Es gab aber sicher auch Einschnitte, schmerzhafte Erfahrungen.
Was schmerzt dich? Was ist nicht gelungen?

Es schmerzt, wenn man von außen angefeindet wird und von innen her nicht gedeckt; wenn man den Eindruck hat, ich hab mich zwar konform verhalten, aber manche finden das schlecht. Ich hab natürlich dominiert, das kann man einem vorwerfen. Meine Sicht ist: Wenn du 31 Jahre die Deutsche Evangelische Allianz führst – und du sie dann nicht geprägt hättest, dann wär doch was schief! Was nicht gelungen ist? Da kommt nochmal das Thema Lebensschutz: Ich bedaure sehr, dass wir da gesellschaftlich nicht mehr tun konnten. Auch in Sachen Evangelisation hätten wir noch mehr tun müssen.

Du hast jetzt noch einige Vorstandsaufgaben, demnächst viele Freiheiten. In welchem Gremium wirst du bleiben? 
Meine Absicht ist, alle Ämter abzugeben. Ich möchte nicht meinen Nachfolgern im Weg rumsitzen. Und ich hab drei Entscheidungen getroffen:
Zuerst werde ich zwei Monate in Quarantäne gehen, auch mal fort sein.
Das zweite: Ich krieg viele Anfragen zu Diensten. Da befrag ich meinen Terminkalender und seh mir die Aufgabe an, ob das das Richtige für mich sein kann, bei größeren Sachen frag ich meine Frau.
Und das dritte: Über Gremienzugehörigkeiten und kontinuierliche Aufgaben werde ich im Jahr 2019 keine Entscheidungen treffen, frühestens 2020.

Gibt es eigentlich einen Bibelvers, der dich in deinem Leben begleitet hat? 
Ja, mein Konfirmationsspruch: „Des Herrn Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiss.“ Und der andere ist „So der Herr will und wir leben, wollen wir dies oder das tun“, aus dem Jakobusbrief. Man kann die Zukunft sowieso nicht planen, darum muss man’s auch nicht machen.

Dann weiter viel Lebensfreude und Segen bei allem, was kommt!

Das Interview führten Susanne Chmell und Jörg Podworny