30.05.2011
Dr.Rolf Hille: Die evangelikale Wende
Nachdem der Begriff „evangelikal“ in den letzten Jahren durch die Gleichsetzung mit „fundamentalistisch“ in linksliberalen kirchlichen sowie atheistischen Medien negativ besetzt war, gibt es seit Herbst letzten Jahres eine Wende zu einer positiven Wertung. Dazu ein Kommentar des Vorsitzenden des Arbeitskreises für evangelikale Theologie, Dr. Rolf Hille (Heilbronn)
Dr.Rolf Hille: Die evangelikale Wende
Nachdem der Begriff „evangelikal“ in den letzten Jahren durch die Gleichsetzung mit „fundamentalistisch“ in linksliberalen kirchlichen sowie atheistischen Medien negativ besetzt war, gibt es seit Herbst letzten Jahres eine Wende zu einer positiven Wertung. Dazu ein Kommentar des Vorsitzenden des Arbeitskreises für evangelikale Theologie, Dr. Rolf Hille (Heilbronn)
Zur Wende beigetragen hat zunächst das Buch der (nicht evangelikalen) New Yorker Professorin für multikulturelle Studien, Marcia Pally („Die Neuen Evangelikalen“), die der Bewegung der theologisch konservativen Protestanten bescheinigt, Vorreiter auch auf sozialem Gebiet zu sein. Ein Meilenstein ist dann aber ein Kongress im Oktober im südafrikanischen Kapstadt gewesen, wo sich 4.200 führende Evangelikale aus fast 200 Staaten neu positionierten.
1974 hat sich das Gleichgewicht in der christlichen (nicht-katholischen) Ökumene tiefgreifend verschoben. Viele evangelische und die anglikanischen Kirchen haben sich 1948 mit den orthodoxen Kirchen im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) zusammengeschlossen. Doch gerade dieser Dachverband sorgte in den 70er Jahren für viel Aufregung in der Christenheit. So forderte man in der Genfer Zentrale der auch Weltkirchenrat genannten Organisation ein Moratorium der Mission: Nach Jahrzehnten intensiver Kirchengründung in Afrika und Asien sollten keine weißen Missionare aus Europa und Nordamerika mehr entsandt werden. Stattdessen wollte man sich auf den Dialog der Religionen beschränken. Hinzu kam die Unterstützung auch gewaltanwendender Widerstandsbewegungen besonders im südlichen Afrika. Man sagte: Gott sei in Revolutionen am Werk und das soziale Engagement sei der Anfang des Reiches Gottes auf Erden. Das löste heftige Diskussionen aus.
Eine große Gegenoffensive
Eine theologische Gegenoffensive begann: Der international bekannte US-amerikanische Baptistenprediger Billy Graham lud 2.700 protestantische Kirchenführer und Evangelisten nach Lausanne in die Schweiz ein. Das war im Sommer vor 37 Jahren. Und damit betrat 1974 eine ganz neue ökumenische Kraft die Bühne der Weltchristenheit: die evangelikale Bewegung, die mittlerweile 546 Millionen Anhänger zählt. Unübersehbar steht seitdem neben dem einflussreichen liberalen Protestantismus eine höchst dynamische, theologisch konservativ orientierte Gruppierung, die vorher so kaum wahrgenommen worden war. Nicht zu Unrecht wurde eine ihrer Ursprungsbewegungen – der Pietismus – mit „Die Stillen im Land“ umschrieben.
Doch was geht uns das heute an? Die 70er Jahre liegen weit zurück und vieles hat sich mittlerweile in der Beziehung zwischen der Genfer Ökumene und der evangelikalen Bewegung verbessert. Das ist wesentlich der starken und kontinuierlichen Präsenz der Lausanner Bewegung für Weltevangelisation zu verdanken, die dem Großereignis in der Schweizer Metropole ihren Namen verdankt.
Das südliche Afrika führte zur Ernüchterung in der Ökumene
Beim ersten Kongress – 1974 – wurden grundlegende Fragen des Kirchenverständnisses und der Missionstheologie geklärt, die seitdem eine solide Basis der Zusammenarbeit zwischen vielen Kirchen der Zweidrittelwelt und der sogenannten Ersten Welt (so sie jedenfalls den Evangelikalen nahestehen) bildeten: Der interreligiöse Dialog ist in einer globalisierten multireligiösen Welt wichtig, aber er ersetzt in keiner Weise die missionarische Einladung an Menschen islamischen, hinduistischen oder buddhistischen Glaubens, Christen zu werden. Es ist vielmehr ein Menschenrecht, dass jeder das Evangelium von Jesus Christus hören kann. Politische Unterdrückung ist Unrecht, und wirtschaftliche Ausbeutung darf ebenso nicht geduldet werden. Diese gesellschaftskritischen Positionen haben Evangelikale durch Wort und Tat seit jenem Aufbruch 1974 in Lausanne öffentlich vertreten. Aber der Mensch kann das Reich Gottes nicht durch sein Engagement auf Erden schaffen. Hier ist inzwischen bei sehr vielen Vertretern des Ökumenischen Rates eine große Ernüchterung eingetreten. Die Machtübernahme der vom Weltkirchenrat unterstützten schwarzen Widerstandsbewegungen hat in Simbabwe (dem früheren Rhodesien) zu Bürgerkrieg wie Hungersnot geführt. Und in Südafrika wie Namibia (zuvor Südwestafrika) hat das notwendige Ende der Apartheid längst nicht überall Gerechtigkeit und Wohlstand gebracht. Afrika leidet weiterhin vielfach – auch unter schwarzen Herrschern. Deshalb überzeugen Evangelikale mit ihrer Balance aus biblischem Realismus und missionarischer Leidenschaft mehr. Sie sind zusammengeschlossen in den beiden Dachverbänden – der Lausanner Bewegung für Weltevangelisation und der Weltweiten Evangelischen Allianz.
Entscheidend ist heute wieder die Wahrheitsfrage
Der beste Beleg für die theologische Kontinuität der evangelikalen Bewegung ist der 3. von „Lausanne“ veranstaltete Kongress in Kapstadt im Oktober 2010 gewesen. In der mondänen Stadt an der Südspitze Afrikas trafen sich 4.200 evangelikale Repräsentanten aus fast 200 Ländern. Eine neue junge Generation der Evangelikalen hat inzwischen die Verantwortung übernommen. Sie kennen die alten Kontroversen mit einer theologisch und politisch einseitigen Genfer Ökumene aus den 70er Jahren kaum mehr. Sie müssen – wenn sie in den weißen Kirchen Europas und Nordamerikas zu Hause sind – ihren Weg in einer Gesellschaft finden, die zunehmend nicht mehr christlich bestimmt ist. Sie haben sich – oft auch innerhalb von Volkskirchen – vor allem der Frage zu stellen: Gilt der Wahrheitsanspruch des Evangeliums für alle Menschen (so das Neue Testament) oder (wie es leider auch manche Theologen sagen) nur für uns als Christen? Hier ist ganz neu das Bekenntnis zur Einzigartigkeit von Christus gefordert. Das dürfte die größte Herausforderung für Christen in Europa sein. Sie sollten sich dabei ermutigen lassen durch die vielen Kirchen, die in Afrika, Asien und Lateinamerika entsprechend predigen und einen unglaublichen Aufbruch erleben. In Kapstadt wirkten Vertreter dieser Kontinente maßgeblich am Programm mit. Nach einem sieben Tage dauernden Programm legten die Veranstalter ihren Glauben und ihre Werteorientierung als „Verpflichtung von Kapstadt“ vor. Der 2. Teil dieses Dokuments – ein „Aufruf zum Handeln“ – erschien dann Anfang dieses Jahres.
Evangelikale sind anders, als Unwissende meinen
Über Evangelikale sind viele Klischees im Umlauf. So bezeichnet man sie bei Unwissenden immer noch als fundamentalistisch oder nicht gesprächsfähig. Aber all diese Vorurteile kann man getrost vergessen – vor allem wenn man sich die Ergebnisse von Kapstadt anschaut.
Am Kap trafen sich Christen aus allen Rassen und Nationen mit Beobachtern aus der römisch-katholischen und den orthodoxen Kirchen. Solide biblische Theologie verband sich mit vielfältigen Formen der Frömmigkeit und einem wachsenden Bewusstsein für die Krisen der Welt. Nachdem die Lausanner Bewegung in ihren ersten beiden Kongressen – 1974 und 1989 in Manila – ein Konzept für die Verbreitung der christlichen Botschaft in der modernen Welt vorgelegt hatte, wendete sie sich in Südafrika entschlossen den brennenden ethischen Fragen zu. So geht es in dem „Aufruf zum Handeln“ um Frieden und Versöhnung, die Jesus Christus möglich macht auf der persönlichen Ebene, aber auch in den sozialen Konflikten. Die Kapstadt-Verpflichtung fordert die Christen zu Nächstenliebe und dem Respekt vor Menschen mit anderen Weltanschauungen auf. Gleichzeitig tritt die Lausanner Bewegung für die Einhaltung der Menschenrechte ein, vor allem der Religions- und Gewissensfreiheit. Unter dem Stichwort „Partnerschaft“ werden die Gemeinden aufgerufen, dass Männer und Frauen im Dienst der Verkündigung, Seelsorge, Gemeindeleitung und Diakonie zusammenarbeiten. Schließlich liegt ein starker Akzent des Dokuments auf dem Ziel ökumenischer Einheit: zunächst innerhalb des zerspaltenen Protestantismus, dann aber auch weit über die Konfessionsgrenzen hinaus. Hier – so die Überzeugung der Verfasser – ist das Vertrauen in die Heilige Schrift und die Liebe zu Jesus Christus die tragende Grundlage.
Es gibt achtmal mehr Evangelikale als Lutheraner
Bedenkt man, dass die Evangelikalen fast 550 Millionen Christen weltweit darstellen (fast achtmal mehr, als es Lutheraner gibt), so sollte man aufhören, sie arrogant von oben herab zu betrachten. Es wäre vielmehr für alle Kirchen fruchtbar, sich von der Dynamik dieser Bewegung anstecken zu lassen.
aus idea