11.01.2010
Milliardeninvestitionen ohne Wirkung
Was haben Evangelikale in der Ex-Sowjetunion falsch gemacht?
Bad Liebenzell (idea) – Evangelikale Missionswerke haben in der ehemaligen Sowjetunion etwa 35 Milliarden Euro investiert, aber keine langfristigen Wirkungen erzielt. Ihre Hoffnung, die Gesellschaften nach dem Ende des Kommunismus durch Großevangelisationen, Literaturimporte und Gemeindegründungen geistlich zu erneuern, habe sich nicht erfüllt, sagte der Missionswissenschaftler Prof. Johannes Reimer (Bergneustadt bei Köln) bei der Jahrestagung des Arbeitskreises für evangelikale Missiologie (AfeM). Sie fand vom 8. bis 9. Januar in Bad Liebenzell statt. Nach Reimers Angaben ist die Zahl der Evangelikalen in der ehemaligen Sowjetunion zurückgegangen. Als Beispiel nannte er den russischen Baptistenbund, dessen Mitgliederzahl in den letzten 20 Jahren von 93.000 auf 72.000 gesunken sei. Vielerorts stünden neue Gemeindehäuser leer.
Einseitiges Missionsverständnis
Ursache sei ein einseitiges Missionsverständnis der evangelikalen Bewegung. Sie konzentriere sich weithin auf die Verkündigung mit dem Ziel individueller Bekehrungen, ohne aber die konkreten Lebenssituationen der Menschen zu berücksichtigen, so Reimer. Nach biblischem Verständnis solle Mission dazuführen, dass das Reich Gottes in der Welt sichtbar werde. Dies umfasse neben Evangelisation auch ein attraktives Gemeindeleben, einladende Gottesdienste sowie soziales Engagement. Bewahrung der Schöpfung und Eintreten für Gerechtigkeit seien Themen, die Christen nicht politischen oder anderen gesellschaftlichen Gruppen überlassen sollten. „Der Glaube muss sich auch mit der Tagesordnung der Welt befassen, damit seine Bedeutung für die Menschheit erkennbar wird", so der am Theologischen Seminar des Bundes Freier evangelischer Gemeinden (Dietzhölztal-Ewersbach/Mittelhessen) lehrende Theologe.
Bekehrung ist niemals nur privat
Auch nach Ansicht anderer Referenten der AfeM-Tagung könnte die Verbreitung des christlichen Glaubens erfolgreicher sein, wenn sich Missionare stärker mit den Folgen ihrer Arbeit beschäftigten. So sei eine Bekehrung niemals nur ein privates Ereignis. Ein Mensch, der sein Leben aufgrund einer Hinwendung zum Christentum radikal verändere, werde von der Umwelt häufig als Außenseiter und Bedrohung wahrgenommen. Das erkläre etwa den Widerstand indischer Hinduisten gegen die Mission unter den sogenannten „Unberührbaren", den kastenlosen Dalits, weil dadurch das auf dem Kastenwesen aufgebaute Gesellschaftssystem massiv in Frage gestellt werde. Muslime, die sich für ein Leben mit Jesus Christus entschieden, gälten als Verräter an ihrer Religionsgemeinschaft. Dem Forschungsleiter des internationalen Missionswerks OM (Operation Mobilisation), David Greenlee (Zürich), zufolge akzeptieren nichtchristliche Gesellschaften missionarische Aktivitäten, wenn von ihnen keine Gefahr für Kultur oder Staat ausgeht. Dann könne sie ihre Wirkung entfalten und gelegentlich sogar politische Veränderungen herbeiführen. Im 19. Jahrhundert hätten Christen maßgeblich zur Abschaffung der Sklaverei beigetragen. Im 20. Jahrhundert habe der ehemalige US-Präsidentenberater Chuck Colson, der nach der Watergate-Affäre 1974 sieben Monate hinter Gitter musste, als Christ Impulse für eine Reform des US-amerikanischen Strafvollzugs gegeben.
Mission verwirklicht Menschenrechte
Der Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit, Prof. Thomas Schirrmacher (Bonn), riet den Missionswerken, stärker auf ihren Beitrag zur Verwirklichung der Menschenrechte hinzuweisen. Dadurch könne das Vorurteil, Mission missachte die Würde von Angehörigen anderer Religionen, entkräftet werden. „Eine Missionsgesellschaft, die ein Krankenhaus unterhält, tut mehr für die Verwirklichung der Menschenrechte als sämtliche Missions-Kritiker", sagte Schirrmacher. Deshalb habe es jemenitische Behörden bedauert, dass die Missionswerke ihre Arbeit einstellten, als im Juni christliche Entwicklungshelfer entführt und ermordet wurden. AfeM gehören rund 200 Missionswissenschaftler und Mitarbeiter von Missionswerken im deutschsprachigen Europa an. Der Arbeitskreis arbeitet auf der Grundlage der Deutschen Evangelischen Allianz. Vorsitzender ist Prof. Klaus W. Müller (Gießen).