26.12.2010
Der Gründer des Roten Kreuzes war ein evangelikaler Mann
Henri Dunant, der Gründer des Roten Kreuzes, wird hundert Jahre nach seinem Tod durch verschiedene Publikationen neu wahrgenommen. Der biografische Abriss von Dieter und Gisela Riesenberger eignet sich hervorragend, den Christen hinter der Ikone der Menschlichkeit zu entdecken. Eine Buchbesprechung von Samuel Moser.
Die geistlichen Wurzeln Dunants sind in der freikirchlichen Erneuerungsbewegung des beginnenden 19. Jahrhundert – dem „Genfer Réveil“ – zu suchen. Mit religiösem Eifer strebte Dunant nach einem wirtschaftlich erfolgreichen und gottgefälligen Leben. 1852 gründete er mit Gleichgesinnten den Christlichen Verein Junger Männer (CVJM), der heute über 45 Millionen Mitglieder zählt. Im gleichen Jahr wurde er Sekretär der jungen Evangelischen Allianz in Genf; sein Einfluss im Leitungsgremium ist bis ins Jahr 1867 nachweisbar. Beruflich war er schwergewichtig im von Frankreich kolonisierten Algerien tätig. Er rief dort eine Mühlengesellschaft ins Leben. Dabei kämpfte er erfolglos mit dem französischen Behördenapparat um eine Konzession zur Nutzung von Wasserfällen, die er dringend für den Betrieb der Mühlen benötigte.
Ein Bild des Grauens
So beschloss Dunant 1859, Kaiser Napoleon III. nachzureisen und ihn um Hilfe anzugehen. Dieser war in Ober-italien; dort standen sich die österreichisch-ungarischen und französisch-sardinischen Truppen gegenüber. Den Kaiser traf Dunant allerdings nicht, dagegen stieß er auf die Verwundeten und Verletzten der Schlacht von Solferino. Zu Tausenden lagen sie hilflos auf dem Schlachtfeld. Die militärischen Sanitätseinheiten waren total überfordert. Dunant bot sich ein Bild des Grauens. Er organisierte tatkräftig erste Hilfe. Nachhaltig beeindruckt von dem, was er erlebt hatte, schrieb er, „inspiriert durch den Atem Gottes“, die eindrückliche Schrift „Erinnerung an Solferino“, die bis heute in 21 Sprachen übersetzt worden ist.
Der Aufstieg
Im Jahre 1863 gründete Dunant mit Hilfe von Gustave Moynier, dem Präsidenten der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft, und Henri Dufour, dem erfolgreichen General des eidgenössischen Sonderbundkrieges, das Rote Kreuz. Im Jahr darauf unterzeichneten zwölf Staaten die „Genfer Konvention betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen“. Damit war Dunant auf dem Höhepunkt seines Wirkens. Seine nach Solferino entstandene Vision war Realität geworden. In den Folgejahren wurde er an den europäischen Königshöfen empfangen, mit Orden und Ehrenzeichen bedacht.
Der Absturz
Nach 1867 erfolgte der jähe Absturz. Die verzweigten Unternehmungen Dunants gingen bankrott. Ein Genfer Zivilgericht sprach ihn des bewussten Betrugs schuldig. Der Schaden wurde auf über eine Million Schweizerfranken beziffert, eine Schuldenlast, die Dunants ganzes weiteres Leben überschattete. Man zwang ihn zum Rücktritt aus der Rotkreuzgesellschaft. Er verließ Genf für immer und zog als mittelloser Vagabund durch Europa. Aber er blieb rastlos tätig. So setzte er sich als Vertreter eines christlichen Zionismus für die Gründung eines kleinen hebräischen Staates auf dem Boden des Heiligen Landes ein und entwarf Siedlungsprojekte.
Späte Anerkennung
Den Gegnern Dunants wäre es beinahe gelungen, ihn vergessen zu machen. Ende 1887 ließ er sich im appenzellischen Heiden nieder. Im Bezirksspital mietete der lebenslang ledig Gebliebene ein Zimmer, das er kaum mehr verließ. Er intensivierte die bereits früher begonnenen Studien der prophetischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments. Er war davon überzeugt, dass er in den letzten Tagen der Weltgeschichte lebte und die sichtbare Wiederkunft Christi nach einem letzten Fanal des menschlichen Totalitarismus unmittelbar bevorstand. Verbitterung und Verfolgungsängste hinderten Dunant nicht daran, systematisch seine Rehabilitierung vorzubereiten. Ein paar wenige Freunde waren ihm dabei behilflich. 1901 erhielt der gedemütigte Visionär mit dem weißen Bart den langersehnten, erstmals verliehenen Friedensnobelpreis. Henri Dunants Geist blieb bis zu seinem Tode hellwach. Er entschlief am 1. November 1910. Seine sterblichen Überreste ruhen auf dem Sihlfeld in Zürich.
Mit großem Einfühlungsvermögen gelingt es Dieter und Gisela Riesenberger, Licht und Schatten eines menschlichen Unikats sorgfältig darzustellen.
Dieter und Gisela Riesenberger: Rotes Kreuz und Weiße Fahne, Henri Dunant 1828–1910, Der Mensch hinter seinem Werk, Donat Verlag, Bremen, ISBN 978-3-938275-83-2, 360 Seiten, Euro 19.50/sFr. 29,25