08.04.2010
Sind evangelikale Christen Fundamentalisten?
Ein Religionssoziologe bezieht Stellung
(Willingen) Der Begriff „Fundamentalismus“ fällt in den Medien häufig – aber nicht nur in Zusammenhang mit islamischen Terroristen, sondern auch mit evangelikalen Christen. Der Religionssoziologe, Theologe und Autor eines Buches über Fundamentalismus Prof. Dr. Thomas Schirrmacher hielt im Rahmen des GemeindeFerienFestivals SPRING ein Seminar zu dem Thema.
„Für viele ist es schon Fundamentalismus, wenn man die Bibel für richtig hält“, beobachtet der Professor. Dabei hätten doch die meisten Menschen eine Art Wahrheitsanspruch in ihrer Sichtweise – auch wenn das manchmal nicht so offen zugegeben werde. Für den Theologen ist der Wahrheitsanspruch an sich noch kein Fundamentalismus: „Erst wenn die absolute Wahrheit mit einem undemokratischen Herrschaftsanspruch verbunden wird, der Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele als legitim erachtet, trifft diese Begriffswahl zu.“
Einen militanten Wahrheitsanspruch gibt es nach Ansicht Schirrmachers in den meisten Religionen und Weltanschauungen; Beispiele sind gewaltbereite Hindus in Indien, muslimische Märtyrer in Pakistan und viele andere, die aber innerhalb ihrer Religionsgruppe jeweils eine verschwindend kleine Minderheit ausmachen. „Für diese Bewegungen ist das Schlagwort ‚Fundamentalismus‘. Zumindest hat bisher keiner ein anderes vorgeschlagen“, so Schirrmacher.
Mit Fundamentalismus verbinden die meisten Menschen blutige Anschläge und Bekenntniszwang. Daher schürt der Begriff Angst. Problematisch sei es deshalb laut Schirrmacher, wenn der Fachbegriff zu Unrecht als Polemik gegen Andersdenkende eingesetzt werde: „Dann wird die Bezeichnung ‚Fundamentalist‘ zu einem Schimpfwort, das oft genau von denen gebraucht wird, die selber schwarz-weiß-denken und sich kaum mit der Gruppe befasst haben, die sie als Fundamentalisten abstempeln.“
Schirrmacher stellt verschiedene Merkmale heraus, warum Evangelikale dem Lager der Fundamentalisten nicht zugerechnet werden dürfen: Zunächst handele es sich bei den Evangelikalen um circa 500 Millionen Menschen, also rund ein Sechstel der Weltbevölkerung: „Unvorstellbar, wenn diese gewaltbereit wäre“. Weiterhin seien Evangelikale große Befürworter der Trennung von Kirche und Staat und nicht – wie manchmal unterstellt – beseelt von dem Wunsch nach einem christlichen Gottesstaat: “Wo die Kindstaufe vermieden wird, um den Menschen eine freie Entscheidung zu ermöglichen, ist das Vorschreiben der eigenen Weltanschauung für andere undenkbar“, so der Religionssoziologe. Die demokratische Grundhaltung der evangelikalen Kirchen wiederspreche ebenfalls den Grundsätzen des Fundamentalismus. Pastoren würden hier gewählt und abgesetzt, erklärte Schirrmacher. „Das können z.B. die Landeskirchen schlecht nachvollziehen“.
Zwar sei die Bibel für Evangelikale der höchste Maßstab. Das protestantische Selbstverständnis betone jedoch das Selbststudium der Bibel und warne davor, vorgefertigte Meinungen zu übernehmen: „Bei den vielen Debatten, die eine solche Freiheit provoziert, wünschte man sich manchmal fast einen kleinen Papst, der hier Ordnung schafft“, so Schirrmacher.
„Mehr Engangement für verfolgte Christen“
„Drei Viertel aller Fälle religiöser Verfolgung betreffen Christen“. Darauf machte Prof. Dr. Thomas Schirrmacher in einem weiteren Seminar im Rahmen des „GemeindeFerienFestival SPRING“ aufmerksam. Etwa 200 Millionen Christen seien dabei so schwerer Verfolgung ausgesetzt, dass sie selbst beim Gottesdienstbesuch um ihre Sicherheit fürchten müssten.
Zu den Staaten mit der schlimmsten Christenverfolgung gehören laut Schirrmacher Saudi-Arabien und Nordkorea. In China seien momentan alle Religionen am wachsen, das Christentum sei dort fast schon „in“. Schirrmacher, der auch Sprecher für Menschenrechte der Weltweiten Evangelischen Allianz ist, zeigte sich erfreut darüber, dass sich die chinesische Führung religiösen Gruppen gegenüber nachgiebiger zeige als noch vor zehn Jahren. Bei allen Zahlen und Statistiken dürfe man eines aber nicht vergessen: „Hinter jeder Zahl steht ein persönliches Schicksal, eine Person mit Freunden und Angehörigen“. Schirrmacher appellierte an die Besucher: „Als Christen sollten wir im Gebet, aber auch politisch für unsere verfolgten Glaubensgeschwister einstehen“.
Während Christen bisher vor allem in islamisch und kommunistisch geprägten Staaten verfolgt würden, sei heute auch eine neue Art von Benachteiligung durch den „Pluralismus westlicher Gesellschaften“ zu vernehmen. Als Beispiel hierfür nannte Schirrmacher die Gesetze zur „Antidiskriminierung“ der Europäischen Union und einzelner europäischer Staaten. In Großbritannien habe beispielsweise eine katholische Adoptionsagentur schließen müssen, weil sie sich unter anderem weigerte, Kinder an homosexuelle Paare zu vermitteln. Nach einem jahrelangen Rechtsstreit habe die Agentur zwar mittlerweile wieder öffnen dürfen, der Vorfall zeige aber, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit auch in westlichen Staaten herausgefordert werde. Die deutsche Bundesregierung, erklärte Schirrmacher, halte sich beim Umsetzen der EU-Regelungen noch sehr zurück. „Keine einflussreiche Größe in Deutschland“, berichtete er, „will den Glaubensgemeinschaften Probleme bereiten“.
Anders sei es mit den deutschen Medien. Hier sieht Thomas Schirrmacher eine „ungeheuerliche Diskriminierung“ von evangelikalen Gruppen. Viele Beiträge über so genannte „christliche Fundamentalisten“ seien „desinformierend“. Schirrmacher rät hier zur „Nüchternheit“: Christen sollten es als Chance verstehen, Freunde und Bekannte etwa auf Fernsehbeiträge anzusprechen und positive Erfahrungen aus ihrem Glaubens- und Gemeindeleben weiterzugeben.