27.03.2009
Evangelikale waren Vorkämpfer gegen Sklaverei und Unterdrückung
Professor Dr. mult. Thomas Schirrmacher in der idea-Serie „Evangelikale – wie sie wirklich sind“
Evangelikale waren Vorkämpfer gegen Sklaverei und Unterdrückung
Professor Dr. mult. Thomas Schirrmacher in der idea-Serie „Evangelikale – wie sie wirklich sind“
Die Evangelikalen sind nach der römisch-katholischen Kirche die größte Bewegung der Christenheit. Weltweit rechnen sich etwa 460 Millionen Christen den theologisch Konservativen zu, die meisten davon sind Mitglieder protestantischer Volks- und Freikirchen. In den letzten Monaten berichteten deutsche Medien meist kritisch über die Evangelikalen. idea hat bekannte Persönlichkeiten in Deutschland gebeten, aus ihrer Sicht die Vielfalt evangelikaler Theologie und Frömmigkeit zu beschreiben. Prof. Dr. Thomas Schirrmacher, Rektor des evangelikalen Martin Bucer Seminars, wehrt sich gegen ein einseitiges Bild der evangelikalen Ethik in der Öffentlichkeit.
Als der Grünen-Politiker Volker Beck im Januar 2008 im Deutschen Bundestag eine „Kleine Anfrage“ gegen den evangelikalen Jugendkongress „Christival“ startete, konnte man den Eindruck gewinnen, Evangelikale seien vor allem gegen Abtreibung und gelebte Homosexualität.
Verdienstkreuz abgelehnt
Und tatsächlich: Schon 1988 lehnte etwa der damalige Präses der pietistischen Dachorganisation Gnadauer Verband, Kurt Heimbucher, das Bundesverdienstkreuz mit Hinweis auf die massenhaften, vom Staat geförderten Abtreibungen ab. Außerdem waren die Evangelikalen zu allen Zeiten Gegner der ausgelebten Homosexualität. Ist aber mit der Ausrichtung pro Familie und Kinder und gegen außereheliche Sexualität aller Art tatsächlich schon erfasst, was die Ethik der fast 460 Millionen Evangelikalen weltweit ausmacht? Die Wirklichkeit sieht anders aus. Ein solch einseitiges Bild der Evangelikalen übersieht, dass es die Evangelikalen waren, die die erste große Bewegung gegen die Sklaverei in England und den USA hervorbrachten, ja, dass der Begriff „evangelicals“ in England sogar erstmals in diesem Zusammenhang verwendet wurde. Evangelikale kämpften weltweit an vorderster Front gegen Rassismus, zum Beispiel in Indien, und das schon zu einer Zeit, als die meisten Kirchen noch nach Kasten getrennt das Abendmahl feierten.
Gegen Apartheid & Gewalt
Die Kritik an der evangelikalen Bewegung übersieht, dass sich ein konservativer evangelikaler Theologe wie Peter Beyerhaus oder eine Jugendbewegung wie die „Offensive Junger Christen“ (OJC) in den 1970er und 1980er Jahren massiv gegen die Apartheid in Südafrika einsetzten, wenn auch unter Ablehnung gewalttätiger Formen des Umsturzes. Die Evangelische Allianz als größtes Sammelbecken der Evangelikalen forderte im 19. Jahrhundert als erste große religiöse Bewegung weltweit das Recht auf Religionsfreiheit ein – lange vor den Großkirchen. Dabei sandten sie Delegationen ebenso an den türkischen Sultan und den russischen Zar wie auch an die eigenen Landesherren.
Als Volksverräter verschrien
Der Begründer der „Westdeutschen Evangelischen Allianz“ und „Vater der Gemeinschaftsbewegung“, Theodor Christlieb, zog seit 1878 weltweit gegen den verheerenden sogenannten indobritischen Opiumhandel zwischen Indien und China zu Felde, bis hin vor das britische Parlament. Weiß man auch, dass Christlieb 1871 während des Deutsch-Französischen Krieges spektakulär deutsche und französische Christen sich umarmen ließ und für Frieden plädierte, was zu Hause als Volksverrat verschrien wurde? Ahnt man, dass die Evangelikalen immer schon und bis heute dem Staat bei allem Respekt recht kritisch gegenüberstanden und -stehen – nicht erst, seitdem Abtreibung, Pornografie und Homosexualität freigegeben wurden? Erklärt die Karikatur, warum der UNO-Generalsekretär kürzlich die „Micha-Initiative“ der Weltweiten Evangelischen Allianz in New York lobte, weil sie zu den massivsten Unterstützern des UN-Programms zur Halbierung der Armut gehört und weltweit enorme Kräfte gegen Armut mobilisiert – gleich nach dem gigantischen und respektierten überkonfessionellen Hilfswerk „World Vision International“, das aus dem amerikanischen WorldVision hervorging und von daher evangelikale Wurzeln hat.
Was Ethik bedeutet
Ethik ist für Evangelikale – in guter Tradition des Pietismus und der Erweckungsbewegungen, aber auch reformierter und charismatischer Aufbruchsbewegungen – zunächst einmal „Heiligung“. Ethik bedeutet zuallererst, dass Gott in Christus jedem Sünder vergibt und jeder ein neues Leben beginnen kann. Ethik bei den Evangelikalen bedeutet auch, dass jeder Christ sündigt und deswegen täglich um die Heiligung ringen muss, die er nicht aus sich selbst, sondern nur in der Kraft des Heiligen Geistes leben kann. Deswegen beginnt evangelikale Ethik immer mit der Selbstkritik, dass auch jeder Christ falsch denken und handeln kann und dass nur Gott daran etwas ändern kann.
Die Verbindung von Ethik und Heiligung zeigt sich treffend in der Glaubensbasis der Deutschen Evangelischen Allianz von 1972. Sie bekennt sich „zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens“. Sie führt diesen Satz aber weiter, indem sie ergänzt: „… und der Lebensführung“. Das Verhältnis zur Bibel, die uns Christus bezeugt, wird damit auf die persönliche Lebensführung zugespitzt, wie es bereits in der Kernstelle 2. Timotheus 3,16-17 der Fall ist. Weiter bekennt sich die Glaubensbasis „zum Werk des Heiligen Geistes, welcher Bekehrung und Wiedergeburt des Menschen bewirkt, im Gläubigen wohnt und ihn zur Heiligung befähigt“. Deshalb: Ethisches Handeln ist für Evangelikale der Ausdruck ihrer christlichen Existenz, ist „Leben in der Heiligung“ durch das gnädige Handeln Gottes und seines Geistes.
Der Glaube an Christus verändert das Leben
Neben der persönlichen Ethik zeigt sich die Sozialethik der Evangelikalen vor allem bei den Themen Ehe und Familie sowie in der Kinder- und Jugendarbeit. Von dort aus werden auch die anderen Felder bestimmt. Armutsbekämpfung ist deswegen für Evangelikale auch immer Bekämpfung von Familienarmut und der Vernachlässigung von Frauen und Kindern – zu offensichtlich fordert die Bibel den Einsatz dafür. Das freikirchliche Element macht sich in der Betonung des freien Wahlrechts der christlichen Kinder für Taufe und Gemeindemitgliedschaft bemerkbar, einer Voraussetzung für Religionsfreiheit. Es prägt auch die Gleichberechtigung der Laien, die schon früh dazu führte, dass bei Evangelikalen Frauen als Missionarinnen und Sozialreformer aktiv wurden und Einheimische früher als in anderen westlichen Missionsarbeiten zu Kirchenleitern aufsteigen konnten. Die evangelikale Bewegung speist sich ebenso aus dem Pazifismus täuferischer Kirchen wie aus der eher staatstragenden Theologie reformierter Kirchen.
Ein tragendes Element evangelikaler Sozialethik wird gerne übersehen: der Glaube daran, dass Bekehrung und Erweckung enorme Veränderungskräfte freisetzen. Die weltweite Arbeit unter Alkoholikern (z. B. das „Blaue Kreuz“), Drogenabhängigen (z. B. „Teen Challenge“) oder aber auch Gefangenen (z. B. das „Schwarze Kreuz“, die „Gefährdetenhilfen“ und „Prison Fellowship International“, die der für „Watergate“ verurteilte Nixonberater Charles Colson nach seiner Freilassung begann) macht deutlich, dass aus jedem Saulus – ein Mörder – ein Paulus werden kann.
Es gibt Rechts-, aber auch Linksevangelikale
Die evangelikale Bewegung wird aus vielen Wurzeln gespeist und hat heute eine enorme Bandbreite. Der Grund dafür liegt darin, dass das Priestertum aller Gläubigen und die Zurückhaltung gegen zentralistische kirchliche Strukturen ein grundlegendes Element der Evangelikalen ist. Die beiden US-Präsidenten Jimmy Carter (Baptist) und George W. Bush (Methodist) waren persönlich von evangelikalen Erweckungserlebnissen geprägt, doch ihre Politik konnte gegensätzlicher nicht sein. Der Journalist Till Stoldt hat kürzlich in der Tageszeitung „Die Welt“ darauf hingewiesen, dass es nicht nur die „Rechtsevangelikalen“ gibt, sondern ebenso die „Linksevangelikalen“, die sich etwa gegen Militär und Großindustrie einsetzen. Das spiegelt die weltweite Situation wider, stehen doch bedeutenden staatstragenden evangelikalen Ethikern wie Wayne Grudem, Ken Gnanakan, P. Netha oder Mario Aviles bedeutende „evangelikale Befreiungstheologen“ wie Ron Sider, René Padilla oder Samuel Escobar gegenüber.
Das gilt ähnlich auch für Deutschland: Der führende evangelikale Evangelist Ulrich Parzany wurde als Leiter des „linksevangelikalen“ Weigle-Hauses in Essen durch den „Geistlichen Doppelbeschluss“ gegen den NATO-Doppelbeschluss der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland bekannt. Andere Evangelikale waren dagegen ganz auf der Linie der Regierung und forderten damals die Aufrüstung. Auch dies zeigt die Vielfalt der Bewegung: Für viele Evangelikale sind christliche Privatschulen oder gar Hausschulen unverzichtbar, andere Evangelikale setzen sich massiv für eine christliche Präsenz an staatlichen Schulen ein.
Die Stärke der Evangelikalen
Die ethische Stärke der weltweiten evangelikalen Bewegung ist ihre Verbundenheit mit der Basis. Sie hat eine starke Mobilisierungskraft, die von persönlichen Beziehungen ausgeht. Sie ist äußerst aktiv, so sehr, dass die intellektuelle Reflexion darüber bisweilen hinten ansteht.
… und die Schwächen
Es gibt aber Schwächen. So gibt es zu wenig Diskussionen untereinander – erst seit zwei Jahren treffen sich etwa Ethiker, die an evangelikalen Ausbildungsstätten im deutschsprachigen Europa lehren, zum jährlichen Austausch am „Institut für Ethik & Werte“ in Gießen. Gerade angesichts der großen konfessionellen Bandbreite unter den Evangelikalen wäre es angesagt, dass nicht jeder so tut, als wenn er allein die Bibel richtig liest, sondern ein offenes und ehrliches Gespräch stattfindet.
Mit Ausnahme der USA wird noch kaum in echte Forschung investiert. Evangelikale Denkfabriken wie das „Internationale Institut für Religionsfreiheit“ (Bonn) oder das „Institut für Lebens- und Familienwissenschaft“ (Bonn) sind sämtlich jüngsten Datums. Noch immer gibt es zu viele Evangelikale, die jegliches gesellschaftliches Engagement ablehnen. Auch die Lehre vom „Wohlstandsevangelium“ – vor allem in den USA – hat verheerende Auswirkungen auf ethische Fragen wie Armutsbekämpfung oder den Umgang mit Krisen. Auch gelingt es erst in jüngster Zeit wieder, was die Evangelische Allianz im 19. Jahrhundert prägte: international christliche Ethik mitzugestalten, etwa durch die „Micha-Initiative“ der Weltweiten Evangelischen Allianz oder durch die Erarbeitung eines Ethikkodexes für Mission und Menschenrechte, gemeinsam mit dem Weltkirchenrat und dem Vatikan.
Publizistische Offensiven
Auch publizistisch gibt es noch viel zu tun. Im Hänssler Verlag erscheint die Buchserie „kurz und bündig“ mit gesellschaftlichen Themen wie „Die neue Unterschicht“, „Klimawandel“, „Die Scharia“, „Multikulturelle Gesellschaft“ und „Ess-Störungen“. Im Gießener Brunnen-Verlag wurden die ersten Bände einer Reihe „Ethik & Werte“ veröffentlicht. Ethische Handbücher aus der Feder von Georg Huntemann, Klaus Bockmühl, Horst Afflerbach und Helmut Burkhardt sind zu erwähnen, doch es sind noch viel zu wenige. Zudem gibt es noch eine ganze Reihe Themen, bei denen Nachholbedarf besteht, etwa im Bereich der medizinischen Ethik, der Sterbebegleitung oder des religiösen Machtmissbrauches.
Das Fazit: Evangelikale sind stark auf sozialem Gebiet
Zusammengefasst: Evangelikale Ethik erschöpft sich nicht in Fragen der Abtreibung und der Homosexualität. Im Gegenteil: Gerade auf dem sozialen Gebiet haben die Evangelikalen in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit zu allen Zeiten großen Einsatz gezeigt. Der Glaube an Christus ist bei ihnen untrennbar mit dem „richtigen Handeln“ verbunden. Was fehlt sind kritische Reflektion und intellektuelle Durchdringung der Ethik. Ansätze sind aber gemacht. So kann man hoffen, dass in Zukunft das ethische Anliegen der Evangelikalen differenzierter auch in den Medien dargestellt wird.