16.01.2009
100 Jahre Berliner Erklärung: Versöhnung unter Evangelikalen
Pietisten und eine pfingstkirchliche Abspaltung gehen aufeinander zu
100 Jahre Berliner Erklärung: Versöhnung unter Evangelikalen
Pietisten und eine pfingstkirchliche Abspaltung gehen aufeinander zu
Vor 100 Jahren kam es in Deutschland zu einer spektakulären Distanzierung im Pietismus von der Pfingstbewegung. Führende Pietisten aus Landes- und Freikirchen bezeichneten 1909 in der „Berliner Erklärung“ die neue Bewegung als „von unten“, also dämonisch beeinflusst. Daraufhin gab es eine Spaltung innerhalb der pietistischen Dachorganisation „Gnadauer Verband“, der Vereinigung Landeskirchlicher Gemeinschaften. Pfingstlerisch orientierte Pietisten traten aus und bildeten den „Mülheimer Verband“, der später eine Freikirche wurde. 100 Jahre danach haben die Leitungen der beteiligten Verbände – des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und des Mülheimer Verbandes – eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, nach der die damalige Erklärung für das heutige Verhältnis der beiden Verbände keine Bedeutung mehr hat. Dazu eine Einschätzung von dem Theologen Werner Beyer (Bad Blankenburg), die er für die Nachrichtenagentur idea geschrieben hat. Werner Beyer gehörte von 1969 bis 2004 dem Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz (erst DDR-Komitee, dann gesamtdeutscher Hauptvorstand) an und war lange Jahre stellvertretender Vorsitzender der Evangelischen Allianz in der DDR.
Am 4. März 2008 saßen in Kassel je zehn Vertreter des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und des Mülheimer Verbandes Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden zu einer brüderlichen Besprechung über die Berliner Erklärung (BE) von 1909 zusammen. Vor rund 100 Jahren war diese am 15. September 1909 beschlossen und bald darauf veröffentlicht worden. Mit der Berliner Erklärung erklärten sich 56 Persönlichkeiten aus dem Bereich der Evangelischen Allianz gegen die aufbrechende Pfingstbewegung. Das Evangelische Allianzblatt (bzw. dessen Redakteur Bernhard Kühn) focht dann auch mit scharfer Klinge in diesem „Kampf“. Ca. 30 der Mitverfasser waren Angehörige des Gnadauer Verbandes. Die Gnadauer Gemeinschaften waren am schmerzlichsten von den Auseinandersetzungen betroffen. Aus „Gnadau“ waren damals viele Mitglieder und Freunde – ja ganze Gemeinschaften – weggegangen in den neugebildeten „Mülheimer Verband“.
Jahrelang geistlich gerungen
Es ist zu erwarten, dass in diesem 100. Jahr nach 1909 sich noch einige Stimmen zur Berliner Erklärung zu Wort melden. Da finde ich den Satz der eigentlichen Betroffenen – Gnadauer und Mülheimer Verband – in der nebenstehenden Erklärung hoffnungsvoll: „Wir wissen, dass in der jeweils anderen Bewegung der Geist Jesu Christi wirkt.“
Das hatte 1909 anders geklungen. Der Berliner Erklärung waren Geschehnisse vorausgegangen, die einige der Verfasser jener Berliner Erklärung zutiefst umgetrieben hatten. Wochen-, ja jahrelang haben sie in intensivem geistlichen Ringen versucht, die damals auftretenden Phänomene einzuordnen: Krankenheilungen, die keine waren, Weissagungen, die sich als Lüge erwiesen, hochmütige Disqualifizierung einzelner „nur-bekehrter“ Christen, weil diese weder „Geistestaufe“ noch das „Zungenreden“ empfangen hatten u. a..
Die Verfasser der Berliner Erklärung (einige wenige kamen aus den Freikirchen) versuchten, den Gemeinden Orientierung zu geben. Neben vorsichtigen Formulierungen („Wir lassen dahingestellt, wie viel davon dämonisch, wie viel hysterisch oder seelisch ist, – gottgewirkt sind solche Erscheinungen nicht“) fand sich auch der oft wiederholte Satz: „Die sogenannte Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten, sie hat viele Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein. Es wirken in ihr Dämonen, welche, vom Satan mit List geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen. In vielen Fällen haben sich die sogenannten ‚Geistbegabten’ nachträglich als besessen erwiesen.“
Dieses „von unten“ wurde sowohl von den Unterzeichnern wie auch in späteren Kommentaren unterschiedlich ausgelegt. Vorsichtige verstanden dies „von unten“ etwa im Sinne Johannes des Täufers (Joh. 3,31) als „von der Erde = als menschlich/seelisch und nicht göttlich“. Sie ordneten die damals aufgetreten Erscheinungen unter psychische Krankheiten oder Massenpsychose o. ä. ein. Anderen war dies nicht zureichend, sie sagten immer wieder: Die ganze Pfingstbewegung ist dämonischen Ursprungs, also von „ganz unten“ vom Teufel. Ein solches Urteil machte freilich jede weitere Annäherung oder Versöhnung unmöglich – auch über 100 Jahre hinweg!
Nicht „aufheben“, aber ...
Wer solche Zeiten nicht miterlebt hatte, kann leicht abfällige Urteile über die damals Beteiligten fällen. Nun nach hundert Jahren gehen Kinder und Enkel der damalig Beteiligten neu aufeinander zu. In den Aussprachen überraschte die große Übereinstimmung in der Beurteilung der einstigen Geschehnisse und die Einmütigkeit in der Beurteilung der heutigen Aufgaben und anderen gemeinsamen Fronten. Man war sich einig: Es ist nicht möglich, dass Personen oder Gremien späterer Zeit das „aufheben“, was frühere Generationen entschieden und gelebt haben. Aber die Verständigung in der Gewissheit „Wir arbeiten heute im gleichen Geist“ ist zu begrüßen. Die an dieser Erklärung mitgearbeitet haben, wissen dabei: Einigen ist das gemeinsam Gesagte zu wenig, anderen ist das zu viel. Aber ein Schritt in die richtige Richtung ist es auf jeden Fall.
Werner Beyer