26.08.2009

Pietisten sind keine Fundamentalisten

Es hat sich vieles geändert im Pietismus – Ein Interview mit dem Gnadauer Präses

Pietisten sind keine Fundamentalisten

Es hat sich vieles geändert im Pietismus – Ein Interview mit dem Gnadauer Präses

 

Die evangelikale Bewegung steht im Mittelpunkt der religiösen Berichterstattung vieler Medien. Der größte Teil dieser theologisch konservativen Protestanten zählt zu einer bereits im 17. Jahrhundert entstandenen geistlichen Erneuerungsbewegung: dem Pietismus. Die meisten Pietisten in Deutschland, der Schweiz und Österreich gehören zu den rund 5.000 Landeskirchlichen Gemeinschaften, die sich zum Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband zusammengeschlossen haben. Er wurde 1888 in Gnadau bei Magdeburg ins Leben gerufen. Seit 1989 amtiert als Präses Dr. Christoph Morgner (Kassel). 1943 in Zwickau geboren, siedelte er mit seiner Familie 1958 in den Westen über. Nach seinem Theologiestudium war er Pfarrer in Dollbergen bei Hannover. Der Vater von drei Kindern wird im September – kurz vor seinem 66. Geburtstag – in den Ruhestand gehen. Sein Nachfolger wird der Pfälzer Dekan Dr. Michael Diener (47, Pirmasens). Mit Präses Morgner, der auch Mitglied im Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz ist, sprach Helmut Matthies.

idea: Herr Präses, zu keiner Zeit während der 121-jährigen Geschichte des Gnadauer Verbandes hat sich so viel gewandelt wie in den 20 Jahren Ihrer Amtszeit. Manche meinen sogar, das Verhältnis zur Bibel ...

Morgner: Keineswegs. Die Bibel ist und bleibt für uns in der Gemeinschaftsbewegung Gottes Wort. Wir grenzen uns bewusst von liberalen Theologen ab, die sagen, die Bibel sei ein Buch wie jedes andere oder sie sei nicht Gottes Wort, sondern enthalte nur Worte von Gott. Denn dann stellte sich ja sofort die Frage, welches ist nun Gottes Wort und welches nicht – und wer das beurteilt.

idea: Ist auch das Alte Testament Gottes Wort?

Morgner: Natürlich.

idea: Dann müssten wir ja eigentlich Ehebrecher und Homosexuelle umbringen, denn ihr Tod wird im 3. bzw. 5. Buch Mose gefordert ...

Anders als im Judentum

Morgner: Wir lesen als Christen – und das unterscheidet uns vom Judentum – die Bibel vom Neuen Testament her. Für uns gibt es im Alten Testament Passagen, die überholt sind durch das Kommen Christi. Er hat ja selbst in der Bergpredigt Forderungen des Alten Testamentes entweder für überholt erklärt oder sogar noch verschärft.

idea: Aber Jesus hat auch gesagt, dass kein „Tüpfelchen vom Gesetz" (Lukas 16,17) – also der Thora, den fünf Büchern Mose – fällt ...

Morgner: Jesus hat unter Gesetz den Willen Gottes verstanden und er hat uns im Neuen Testament klar gesagt, was er selbst unter diesem Willen Gottes versteht (beispielsweise gegenüber dem reichen Jüngling, Matthäus 19,16 ff). Das sind für ihn im Kern die Zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe. Die Lehre von Jesus wird durch sein Leben ausgelegt.

idea: Auf der Mitgliederversammlung des Gnadauer Verbandes – sozusagen der Synode des innerkirchlichen Pietismus – in diesem Frühjahr haben Sie ein fundamentalistisches Bibelverständnis kritisiert. Was verstehen Sie darunter?

Morgner: Fundamentalismus ist eine Angstreaktion auf die Verunsicherung der Moderne. Für einen Fundamentalisten ist die Bibel das Fundament des Glaubens, in allen Aussagen völlig irrtumslos und unfehlbar.

idea: Ist sie das denn nicht?

Morgner: Der große Unterschied

Diese Begriffe werden der Bibel nicht gerecht. Sie liegt uns nicht im Original vor. Sie ist vielmehr aus zahlreichen hebräischen und griechischen Handschriften zusammengestellt worden, in denen manche Stellen kaum zu übersetzen sind, d. h. es ist nicht immer deutlich, was eigentlich gemeint ist. Von daher kann man nicht einfach behaupten, die Bibel sei in allem unfehlbar. Sie ist Gottes Wort, das jedoch von Menschen – geleitet durch den Heiligen Geist – geschrieben ist. Und wo Menschen etwas wiedergeben, schleichen sich auch mal Unzulänglichkeiten ein. Entscheidend ist, dass uns die Bibel auf dem Weg des Heils führt.

Der große Unterschied

idea: Und was ist nun der Unterschied zwischen einem Pietisten und einem Fundamentalisten?

Morgner: Der Pietist sagt: „Ich glaube an Jesus Christus, von dem in der Bibel Zeugnis abgelegt wird." Der Fundamentalist glaubt sowohl an Jesus Christus als auch an die Bibel.

idea: Unter Ihrem Vorgänger, Präses Kurt Heimbucher (1928-1988), war aufgrund der linksliberalen Entwicklungen in der Volkskirche der 70er und 80er Jahre die Situation zwischen Pietismus und EKD derart gespannt, dass vielfach überlegt wurde, ob sich die Landeskirchlichen Gemeinschaften von der Volkskirche trennen. Das ist seit etwa zehn Jahren kein Thema mehr. Wie ist es dazu gekommen?

Morgner: Der EKD ist durch ihren drastischen Mitgliederrückgang deutlich geworden, dass sie sich neu besinnen muss. Sie hat sich dann mindestens in Teilen an dem orientiert, was uns im Pietismus wichtig ist. Es ist eben nichts wesentlicher für die Kirche, als die Fragen zu beantworten: „Wie werde ich Christ?" und „wie bleibe ich Christ?". Das Thema Mission steht seit der EKD-Synode 1999 in Leipzig – wo es ein Schwerpunkt war – auf der Tagesordnung. Das hat auch im Gnadauer Verband zu einem positiveren Verhältnis zur EKD geführt, so dass wir klar sagen: Wir wollen in dieser Kirche wirken. Dazu kommt, dass in den letzten Jahren zwischen vielen Landeskirchen und den Gemeinschaftsverbänden Vereinbarungen getroffen worden sind, die unsere Prediger wie die Gemeinschaften überhaupt stark aufgewertet haben. So werden Prediger vielfach kirchlich ordiniert und nehmen auch Amtshandlungen wie Taufen, Trauungen und Beerdigungen vor.

Lutheraner sehen's anders

idea: Gibt es diese Vereinbarungen auch mit den lutherischen Landeskirchen?

Morgner: Ja, aber noch nicht in der Breite, die mit anderen Landeskirchen möglich ist. Die lutherischen Kirchen haben ein anderes Verständnis vom Amt des Pfarrers als die unierten oder reformierten Landeskirchen. Im lutherischen Bereich hat der Pfarrer eine größere Bedeutung, und von daher fällt es diesen Landeskirchen schwer, unsere Prediger als gleichwertige Amtsträger und Gemeinschaften als Gemeinden zu akzeptieren.

Ist die deutsche Volkskirche frömmer geworden?

idea: Ist für Sie die Volkskirche frömmer geworden?

Morgner: Insgesamt ja, aber das trifft natürlich nicht für alle Landeskirchen, geschweige denn für alle Gemeinden zu. So leiden wir beispielsweise darunter, dass in einigen Landeskirchen eine Segnung gleichgeschlechtlicher Paare möglich ist. Diesen Kurs lehnen wir als unbiblisch ab. Wir haben allerdings heute mehr Pfarrer, die im Sinne des Pietismus tätig sind, als in den 70er und 80er Jahren. Das hängt damit zusammen, dass man heute schon eine besondere Berufung braucht, wenn man Pfarrer werden will, denn es steht zu Beginn eines Studiums überhaupt nicht fest, ob man eine Stelle bekommen wird. Die positive Entwicklung ist aber auch eine Frucht des Wirkens der damaligen Bekenntnisbewegung: „Kein anderes Evangelium", die in mehreren Städten, wo sich große theologische Fakultäten befinden, Studienhäuser eingerichtet hat, die Theologiestudenten geistlich und fachlich begleiten.

Warum braucht es noch Gemeinschaften?

idea: Wenn denn die Volkskirche frömmer geworden ist, warum braucht es dann eigentlich noch zusätzlich zu den Kirchengemeinden Landeskirchliche Gemeinschaften?

Morgner: Seit Gründung des Gnadauer Verbandes war es so, dass man Christen einer Kirchengemeinde, die ihr geistliches Leben besonders intensiv leben und missionarisch aktiv werden wollten, in Gemeinschaften – besonders zu Bibel-, Gebets- und Evangelisationsstunden – zusammenfasste. Dieses Modell (1) wurde in den letzten Jahrzehnten vielerorts dadurch ergänzt, dass Prediger dieser pietistischen Gemeinschaften im kirchlichen Auftrag auch tauften, trauten und beerdigten (2). Als letztes ist Modell 3 dazugekommen: Eine Landeskirchliche Gemeinschaft wird zu einer Gemeinde in der Landeskirche. Das ist mittlerweile in einigen Landeskirchen selbstverständlich und entspricht dem Reformkonzept der EKD, nach dem es vor allem in größeren Städten Angebote für unterschiedlich geprägte evangelische Christen geben sollte. Solche Gemeinden haben bei uns – z. B. in der Berliner Stadtmission – seit jeher einen festen Platz. Dieses Modell weitet sich aus.

idea: Da gibt es aber doch noch ein Modell 4 ...

Morgner: Das wird von uns aber nicht gefördert. Das sind Gemeinschaften, die sich eher freikirchlich verstehen, was oft aufgrund schwieriger kirchlicher Verhältnisse verstehbar ist.

idea: Welches Modell wächst denn am stärksten?

Morgner: Wir haben da Wachstum, wo wir – vor allem innerhalb der Volkskirche – das Angebot einer pietistischen Gemeinde machen. Hier fühlen sich besonders jüngere Leute und junge Ehepaare angesprochen. Sie sind nicht zufrieden mit dem herkömmlichen Angebot – eine Gemeinschaftsstunde am Sonntagnachmittag –, sondern wollen einen richtigen, bibelorientierten Gottesdienst am Sonntagmorgen. Ein Beispiel dafür ist die „Schönblick"-Gemeinde in Schwäbisch Gmünd. Hier wird mit Zustimmung der württembergischen Landeskirche von Pietisten ein komplettes Gemeindeangebot gemacht – mit großem Erfolg. Es kommen jeden Sonntag rund 400 Besucher.

idea: Ist dieser Trend auch eine Antwort auf die größte Konkurrenz für die Gemeinschaften, den Bund Freier evangelischer Gemeinden, in den doch in den letzten Jahren eine ganze Reihe von einst landeskirchlichen Pietisten übergewechselt ist.

Morgner: Wir entwickeln pietistische Gemeinden nicht als Reaktion oder Gegenbewegung, sondern weil wir selbst davon überzeugt sind, dass sie heute innerhalb der Landeskirchen notwendig sind.

Hier muss EKD protestieren!

idea: Viele Evangelikale – und die Pietisten gehören ja dazu – sind enttäuscht, dass sich die EKD auf die massive Kritik in Massenmedien wie ZDF, ARD, Deutschlandfunk hin nicht schützend vor sie gestellt hat. Ist die Aussage, die Volkskirche habe in den letzten Jahren ein positiveres Verhältnis zu den Evangelikalen gezeigt, dann nicht doch ein Trugbild?

Morgner: Auch ich bin sehr enttäuscht darüber, dass die EKD bisher nicht dem ZDF widersprochen hat, wo im Magazin „Frontal 21" evangelikale Entwicklungshelfer auf eine Stufe mit islamischen Selbstmordattentätern gestellt worden sind. Hier muss die EKD vehement protestieren! Hier darf sie nicht mit zweierlei Maß messen: auf der einen Seite die mutigen Männer im Dritten Reich wie Paul Schneider und Dietrich Bonhoeffer loben und auf der anderen Menschen nicht verteidigen, die aus christlicher Motivation in die Dritte Welt gehen, um den Ärmsten der Armen zu helfen. Wir Evangelikalen haben weltweit keine Terrorcamps, sondern Stützpunkte der Liebe. Das sollte diesen Medien kirchlicherseits entgegengehalten werden. Hier hatte sich die katholische Kirche sofort viel solidarischer gezeigt, als zu Jahresbeginn der Papst angegriffen wurde.

Ein evangelisches Papst-Buch

idea: Kein Präses der Pietisten hat sich bislang so positiv über die katholische Kirche geäußert wie Sie. Noch in den 80er Jahren gab es Vorsitzende von großen Gemeinschaftsverbänden, die die katholische Kirche als größte Sekte aller Zeiten bezeichneten. Ist das Buch des Papstes aus Deutschland, Benedikt XVI., über Jesus Christus für Sie ein evangelisches Buch?

Morgner: Es ist – jedenfalls in den meisten Passagen – ein sehr evangelisches Buch und ich freue mich schon auf den angekündigten 2. Band.

idea: Benedikt XVI. wird aber doch von evangelisch-kirchlicher Seite vorgeworfen, noch katholischer als sein Vorgänger zu sein ...

Morgner: Dem kann ich nicht zustimmen, auch wenn ich mir wünschte, dass er größere Schritte auf die evangelische Seite zuginge. Im Übrigen wird sich auch in der katholischen Kirche etwas ändern müssen, weil aufgrund des Priestermangels eine Betreuung von vielen Gemeinden gar nicht mehr möglich sein wird. Hier würde ich begrüßen, wenn der Papst Priestern freistellt, ob sie zölibatär leben oder eine Ehe eingehen wollen.

Versöhnt mit Pfingstlern?

idea: Der Pietismus hat sich nicht nur im Blick auf die katholische Kirche gewandelt, sondern auch in Richtung Pfingstbewegung. Als sie vor 100 Jahren entstand, haben sich führende Pietisten in der sogenannten Berliner Erklärung 1909 scharf gegen alles Pfingstlerische gewandt. Damals spaltete sich eine pro-pfingstlerische Richtung innerhalb des Pietismus ab, der Mülheimer Verband. Mittlerweile hat sich der Gnadauer Verband wieder mit dem – wie er heute heißt – „Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden" versöhnt. Gibt es keine gravierenden Unterschiede mehr zwischen Pfingstbewegung und Pietismus?

Morgner: Zwischen dem Mülheimer und dem Gnadauer Verband haben viele Gespräche stattgefunden, und wir haben festgestellt, dass wir uns heute auf derselben biblisch-reformatorischen Grundlage befinden. Wir können deshalb auf der Basis der Evangelischen Allianz zusammenarbeiten.

idea: Dann könnten die „Mülheimer" doch wieder in den Gnadauer Verband aufgenommen werden ...

Morgner: Der Mülheimer Verband ist zu einer Freikirche geworden und von daher ist sein Beitritt zu uns als landeskirchlicher Bewegung schlecht möglich. Im Übrigen aber haben wir zur Pfingstbewegung kein pauschales volles Ja. Es gibt Pfingstgemeinden, mit denen es kein Problem ist, im Rahmen der Evangelischen Allianz zusammenzuwirken. Andererseits finden sich aber auch pfingstlerische oder charismatische Gemeinden, bei denen wir dies ablehnen müssen, weil sie unbiblische Sonderlehren vertreten und auf diese Weise zu Spaltungen beitragen – bis hinein in Kirchengemeinden und Gemeinschaften.

Wenn es heißt: Nur noch ein Jahr lang reicht das Leben ...

idea: Was war in Ihrer 20-jährigen Amtszeit für Sie persönlich der größte Einschnitt?

Morgner: Das war im Herbst 2000, als man mir plötzlich eröffnete, ich hätte bestenfalls noch ein Jahr lang zu leben. Die Ärzte hatten bei mir einen aggressiven Krebs festgestellt. Von einem Tag zum andern ändert sich alles. Dann setzt man sich mit seiner Frau zusammen und überlegt, wie es mit der Beerdigung wird und was danach kommt.

idea: Haben Sie Gott in dieser Zeit in besonderer Weise erfahren?

Morgner: Ja. Der Glaube an Jesus Christus wurde für mich in dieser Zeit viel zentraler. Ich habe besonders bestimmte Glaubenslieder – vor allem von Paul Gerhardt (z. B. „Befiehl du deine Wege" bis hin zu „Die güldne Sonne") – aus dem Kirchengesangbuch ganz neu als großen Schatz für mich entdeckt. Ich habe mit meiner Familie erfahren, was in Psalm 68,20 steht: „Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch." Damals erlebte ich auch viel Zuspruch und Fürbitte aus unseren Gemeinschaften. Ich bin Gott unendlich dankbar für das Wunder, dass ich inzwischen vollständig genesen bin.

idea: Danke für das Gespräch.