19.08.2009

Die Hoffnung ist noch nicht erloschen

Die Eltern der im Jemen entführten Familie beten jeden Tag für ihre Kinder

Die Hoffnung ist noch nicht erloschen

Die Eltern der im Jemen entführten Familie beten jeden Tag für ihre Kinder

 

(Matthias Pankau)

Seit mehr als neun Wochen fehlt von der im Jemen entführten fünfköpfigen Familie aus Sachsen jede Spur. Erstmals seit langem haben Angehörige jetzt mit Medienvertretern gesprochen - über ihre Ängste und die große Hoffnung, Johannes, Sabine und ihre drei Kinder bald wieder in die Arme schließen zu können.

Gottfried und Ruth Hentschel wirken gefasst. Beide haben ihre Hände ineinander gelegt und überlegen kurz, wo sie anfangen sollen. Erstmals seit Wochen möchten sie von ihrem Sohn erzählen – Johannes, der zusammen mit seiner Frau Sabine und den drei Kindern Lydia, Anna und Simon am 12. Juni im Jemen entführt worden ist und von denen bisher jede Spur fehlt.

Eigentlich wären sie jetzt hier ...

„Eigentlich wären sie jetzt hier", fängt Ruth Hentschel an. Denn Johannes, Sabine und die drei Kinder kamen jeden Sommer für vier Wochen in die Lausitz, um Urlaub zu machen und die Familie zu besuchen. So sollte es auch in diesem Jahr sein. Als Johannes im Mai allein für ein paar Tage nach Deutschland gekommen war, um bei der Goldenen Hochzeit der Eltern dabei zu sein, hatte er gesagt: „Wir sehen uns ja im August wieder." Die Tickets hatten er und seine Frau schon gekauft. Am 17. August wollten sie kommen.

Gottfried Hentschel holt ein Foto heraus, auf dem Johannes zusammen mit seiner Frau Sabine und den Kindern Lydia (5), Anna (3) und Simon (1) zu sehen ist. Eine glückliche Familie. Mutter Sabine hält Sohn Simon auf dem Arm. Vater Johannes und Anna lächeln in die Kamera. Lydia schaut etwas scheu nach unten. „Das ist das letzte Bild, was wir von ihnen haben", sagt der 78-Jährige. „Johannes hat es uns zur Goldenen Hochzeit geschenkt." Seine Stimme zittert.

Das letzte von sieben Kindern

Seine Frau schaut auf das Bild und sagt: „Der Johannes ist unser Jüngster. Der siebte." Zu ihm habe sie ein ganz besonders enges Verhältnis gehabt – „wie das bei den Jüngsten häufig ist". Ihn hätten sie in der Erziehung nie gemerkt, so unauffällig und „pflegeleicht" sei er gewesen. Doch Johannes habe es immer in die Ferne gezogen. Kurz nach der friedlichen Revolution 1989 habe er gesagt. „Jetzt ist die Mauer weg, jetzt steht uns die Welt offen." Die elterliche Landwirtschaft wollte Johannes nie übernehmen. Er wollte die Welt sehen und dort etwas Nützliches tun.

Seinen Zivildienst leistete er 1993/94 in einer Arbeit mit körperbehinderten arabischen Jugendlichen. Dort lernte er nicht nur Arabisch, sondern auch den Umgang mit ihnen. „Er hat sich an die dortigen Sitten und Gebräuche angepasst. Er hat nie offensiv über seinen Glauben gesprochen oder gar Traktate verteilt", betont sein Vater Gottfried. Ein Freund von Johannes, der damals mit ihm zusammenarbeitete und der kürzlich in Deutschland war, um dessen Eltern zu besuchen, bestätigt das: „Johannes war schon damals sehr besonnen und vorsichtig im Umgang mit Muslimen. Er hat nie für seinen Glauben geworben." Deshalb kann er sich auch nicht vorstellen, dass das im Jemen anders gewesen sein soll.

Der Krieg kam zu ihnen

Seit sechs Jahren arbeiteten der studierte Maschinenbauer und seine Frau in dem staatlichen Krankenhaus „Mustaschfa al Dschimhuri" in der nordjemenitischen Provinz Saada. Beide waren für die kleine christliche Hilfsorganisation „Worldwide Services" aus den Niederlanden dort. Johannes machte alles – von der Bauleitung über die Reparatur des Notstromaggregats bis zur Reinigung des verstopften Abflusses. Seine Frau Sabine arbeitete als Krankenschwester. Nach allem, was man weiß, war die Arbeit der ausländischen Fachkräfte bei den Einheimischen äußerst beliebt und angesehen – nicht zuletzt, weil alle auch arabisch sprachen. Vorwürfen, Johannes und seine Familie seien leichtsinnig gewesen, indem sie in ein Krisengebiet wie den Jemen gegangen seien, halten Gottfried und Ruth Hentschel entgegen: „Sie sind nicht in ein Kriegsgebiet gegangen. Vielmehr kam der Krieg zu ihnen." Denn als Johannes und Sabine 2003 erstmals in den Jemen gingen – damals noch ohne Kinder – herrschte dort noch kein Krieg.

Die Ungewissheit ist am schlimmsten

Gottfried und Ruth Hentschel starren auf das Foto. Auch zu den Enkeln haben sie ein besonders herzliches Verhältnis. Den kleinen Simon haben sie das letzte Mal gesehen, als er sechs Wochen alt war. Vor kurzem wurde er ein Jahr alt – in Geiselhaft. Auch seine große Schwester Lydia hatte jetzt Geburtstag. „An diesen Tagen ist die Ungewissheit besonders schlimm", sagt Ruth Hentschel. Ihr Mann nickt und zückt ein Taschentuch, um sich eine Träne aus dem Auge zu wischen. Beim Besuch von Johannes, Sabine und den Kindern im letzten Jahr fragte Oma Ruth ihre Lydia, wo sie denn in die Schule gehen wolle, wenn es so weit sei. „Na, in Bautzen natürlich", so die Kleine. Auf die Frage, warum sie nicht im Jemen zur Schule gehen wollte, entgegnete Lydia: „Oma, dort dürfen doch nur Jungs zur Schule gehen." Wenn Ruth Hentschel davon erzählt, lächelt sie. Im nächsten Jahr wollte die Familie wegen des Schulanfangs nach Deutschland zurückkommen.

Doch dann kam der 12. Juni. Was genau am Abend dieses Tages geschehen ist, liegt nach wie vor im Dunkeln. Ob die Umstände der Entführung wirklich so waren, wie in den Medien bisher dargestellt, erscheint ungewiss. „Es ist derzeit so viel Falsches im Umlauf, dass wir uns jetzt bewusst zu Wort melden wollten", sagt Reinhard Pötschke, der die Familie gegenüber der Presse vertritt. Pötschke ist mit Johannes Hentschels nur ein Jahr älterer Schwester verheiratet. Beide Familien stehen sich nahe. Die Kinder sind etwa im gleichen Alter.

Johannes war immer auf Sicherheit bedacht

„Fest steht, dass Johannes das Krankenhaus an diesem Freitag kurz nach 16 Uhr verlassen und sich ordnungsgemäß bei der Wache abgemeldet hat", sagt Pötschke. Zusammen mit einem Briten, einer Südkoreanerin und zwei deutschen Praktikantinnen wollte die Familie noch einen kurzen Ausflug zu einem Picknickplatz machen. „Die Gegend war absolut sicher, sonst wäre eine bewaffnete Begleitung mitgekommen", betont Pötschke. „Johannes war immer sehr auf Sicherheit bedacht. Er hätte nie seine Familie oder sonst jemanden in Gefahr gebracht."

Doch die Gruppe kehrte von dem Ausflug nicht zurück. Irgendwann nach 18 Uhr auf dem Rückweg wurde sie von Unbekannten entführt. Den Notruf über´s Handy im Krankenhaus, von dem zunächst in den Medien berichtet worden war, habe es nicht gegeben, so Pötschke. Auch ist keine der Geiseln in Panik geraten oder hat versucht zu entkommen. „Die beiden Praktikantinnen und die Koreanerin sind nicht erschossen worden, weil sie versuchten zu flüchten", sagt Pötschke. Vielmehr seien sie gezielt exekutiert und so abgelegt worden, dass man sie finden würde. Dabei müssen sich die Geiselnehmer ausgekannt haben. „Sie nahmen bewusst Schleichwege, denn an allen großen Straßen waren Wachen postiert." Auch der Hinweis darauf, dass Johannes mit Muslimen über den christlichen Glauben gesprochen haben soll und dies der Grund für die Entführung gewesen sein könnte, hat sich nicht erhärtet. Ebenfalls mit Sicherheit könne man jetzt sagen, dass die beiden getöteten jungen Frauen aus Deutschland ohne christliche Traktate ins Land eingereist seien.

Hoffnung, dass sie noch leben

Pötschke - Pastor einer Freien evangelischen Gemeinde in Radebeul (bei Dresden) - hat sich in den vergangenen neun Wochen intensiv mit der Situation im Jemen beschäftigt und steht in Kontakt mit dem Auswärtigen Amt und den ermittelnden Behörden: „Ich verarbeite das Ganze, indem ich Informationen sammle." Er vermutet, dass sich die Familie in den Händen von Kriminellen oder Terroristen befindet. Dass es sich um eine Stammesentführung handeln könnte – immerhin leben im Nordjemen etwa 400 zum Teil rivalisierende Stämme nebeneinander – hält der 42-Jährige für unwahrscheinlich. „Frauen und Kinder sind für diese Stämme das höchste Gut. Die entführt man nicht einfach oder bringt sie gar um. Das wäre etwas typisch Unjemenitisches" Mehr möchte er momentan nicht preisgeben. „Aber aufgrund der Indizien, die ich gesammelt habe, habe ich derzeit wieder mehr Hoffnung, dass sie noch leben", sagt er.

Keine neuen Erkenntnisse beim Auswärtigen Amt

Das Auswärtige Amt hält sich ebenfalls bedeckt. „Leider noch keine neuen Erkenntnisse", heißt es von dort. Reinhard Pötschke ist überzeugt davon, dass man sich um die Klärung des Geiseldramas bemüht. „Doch die menschliche Komponente fehlt mir beim Auswärtigen Amt", sagt er unmissverständlich. Während sich der jemenitische Botschafter in Berlin in einer Presseerklärung sofort nach Bekanntwerden der Entführung zu Wort gemeldet und die Entführung verurteilt habe oder die sächsische Staatsregierung sich nach dem Ergehen der Familie erkundigt und ihr Mitgefühl in einem Brief zum Ausdruck gebracht habe, sei vom Auswärtigen Amt weder ein derartiger Anruf gekommen noch ein Brief.

Ortswechsel: Meschwitz – ein kleines Dorf in der Oberlausitz nahe Bautzen. Eingebettet in sanfte Hügel liegt es da. Schmetterlinge schweben über die grünen Wiesen und die abgeernteten Felder. Eine ältere Frau harkt im Garten. Ein junger Mann saust auf einem alten Moped - Marke „Schwalbe" - über´s Feld. Idylle pur. Weniger hundert Meter entfernt steht das Haus, in dem Johannes und seine Familie wohnten, wenn sie nach Deutschland kamen – ein 1732 erbautes Umgebindehaus. Es herrscht Ruhe. Der große Medienrummel ist vorbei. Doch das heißt nicht, dass die Hentschels hier vergessen wären.

„Gefangenschaft ist etwas ganz Schlimmes"

„Wir alle hoffen, dass sie bald wieder nach Hause kommen", sagt ein 85-jähriger Nachbar, der direkt nebenan wohnt und auf einer Bank vor dem Haus sitzt. Er kenne „den Johannes, die Sabine und die Kinder schon lange". Sie seien eine ganz normale Familie. Besonders schön sei es immer dann gewesen, wenn die Kinder durch den Garten zum Spielen rüber gekommen seien. „Wenn ich sie dann gefragt habe, ob sie etwas Obst möchten, antworteten sie nur: Ein Bonbon wäre besser", erzählt er und lacht. Doch dann wird sein Blick wieder ernst: „Gefangenschaft ist etwas ganz Schlimmes. Ich habe das selbst erlebt, war von ´43 bis ´45 in russischer Kriegsgefangenschaft. Da ist man so unheimlich hilflos." Momentan könne man nur beten, dass das Geiseldrama gut ausgehe.

Gebetsgemeinschaft mit dem Bischof

Und genau das tun unzählige Christen in Bautzen und Umgebung. Vor dem mächtigen St. Petri-Dom in Bautzen steht immer noch ein Schild, das an das Schicksal der fünfköpfigen Familie erinnert, die zu einer Landeskirchlichen Gemeinschaft gehört. „Gott ist meine Rettung. Ihm will ich vertrauen und nicht verzagen. Freiheit für Johannes, Sabine, Lydia, Anna und Simon", ist darauf zu lesen. Dass davor nur noch eine Kerze steht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier jeden Sonntag für die Geiseln gebetet wird. Genauso wie täglich in unzähligen Gemeinden ringsumher, die sich zu einer Gebetsgemeinschaft zusammengeschlossen haben. In der Freien evangelischen Gemeinde von Schwager Reinhard Pötschke in Radebeul treffen sich seit dem 13. Juni täglich um 21 Uhr Gemeindeglieder zum Gebet für Johannes und seine Familie. Vergangenen Mittwoch war wieder einmal ein Stuhl mehr besetzt als sonst: Der sächsische Landesbischof Jochen Bohl war gekommen, um mit den Eltern von Johannes und anderen Christen für einen guten Ausgang des Geiseldramas zu beten – bereits zum dritten Mal. Sicher, das Gebet eines Bischofs bewirkt nicht mehr als das eines „normalen" Christen. „Für uns war das trotzdem sehr ermutigend", sagt Ruth Hentschel. Am Ende fassten sich alle an den Händen und sprachen zusammen: „Dass Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht. Sein ist die ganze Welt, sein sind auch wir. Halleluja. Amen."