07.09.2008

Die Wurzeln der Evangelikalen

Herzensfrömmigkeit und Bibelstudium

Die Wurzeln der Evangelikalen

Herzensfrömmigkeit und Bibelstudium

 

Die Evangelikalen sind nach der römisch-katholischen Kirche die größte Bewegung der Christenheit. Weltweit rechnen sich etwa 460 Millionen Christen den theologisch Konservativen zu, die meisten davon sind Mitglieder protestantischer Volks- und Freikirchen. In den letzten Monaten berichteten deutschsprachige Medien meist kritisch über die Evangelikalen. idea hat Fachleute gebeten, aus ihrer Sicht die Vielfalt evangelikaler Theologie und Frömmigkeit zu beschreiben. In einem Beitrag beschreibt Dr. Friedhelm Jung, Dozent am Bibelseminar Bonn, die Wurzeln der evangelikalen Bewegung. Als Deutsche Evangelische Allianz dokumentieren wir diesen Beitrag gerne.

Evangelikale sind Christen, die Jesus Christus als Erlöser und Herrn bekennen, das Evangelium durch Wort und Tat allen Menschen mitteilen wollen, die Bibel als Wort Gottes achten, privates Gebet und Bibelstudium als konstitutiv für jede christliche Existenz betrachten und die regelmäßige Gemeinschaft mit anderen Christen in Gottesdiensten pflegen. Da eigentlich jeder Christ die genannten fünf Punkte hochhalten sollte, schreibt der englische Theologe John Stott zu Recht: „Wenn ‚evangelikal’ eine Theologie beschreibt, dann ist es die biblische Theologie. Die Evangelikalen behaupten, dass sie ganz einfach biblische Christen sind.“

Seit 1965 in Deutschland

Zwar lässt sich das Wort evangelikal erst seit 1965 in der deutschen Sprache nachweisen, die Wurzeln der Evangelikalen reichen jedoch weit in die Vergangenheit. Entsprechend der obigen Definition waren schon die ersten Christen vor 2000 Jahren evangelikal geprägt. Doch im Laufe der Jahrhunderte gingen typische evangelikale Glaubensäußerungen wie Mission und persönliches Bibelstudium verloren. Selbst in der Reformationszeit, als die Bibel wieder ganz neu ins Zentrum rückte, war die missionarische Ausbreitung des christlichen Glaubens ein Fremdwort. Erst im 17. Jahrhundert wurde durch die Frömmigkeitsbewegung des Pietismus sowohl persönliches Gebet und Bibelstudium als auch der Missionsgedanke neu entdeckt. Nicht im Gegensatz, aber doch in Ergänzung zur altprotestantischen Orthodoxie genügte dem Pietismus nicht das Festhalten und Rezitieren der objektiven Heilslehre, wie sie von den orthodoxen lutherischen Dogmatikern aufgestellt worden war. Die pietistische Bewegung bekräftigte die Grundlagen der Reformation (allein die Bibel, allein Christus, allein die Gnade und allein durch Glauben); zugleich ging es ihr aber auch um die subjektive Aneignung (Bekehrung) und Erfahrung des christlichen Glaubens, um wahre Frömmigkeit und Nächstenliebe. Philipp Jakob Spener (1633-1705), lutherischer Pfarrer in Frankfurt am Main, Dresden und Berlin, sammelte die Frommen in kleinen Kreisen (ecclesiola in ecclesia = Kirchlein in der Kirche), um ihr geistliches Leben durch Bibelstudium und Gebet zu vertiefen. Er trat sowohl für eine Reform des Theologiestudiums durch Konzentration auf die Bibelwissenschaft wie auch für die missionarische Weitergabe des Evangeliums ein.

Impulse für die Mission

Durch Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760), Gründer der Brüder-Unität in Herrnhut und einer der interessantesten Gestalten der Kirchengeschichte, erhielt die missionarische Arbeit entscheidende Impulse. Zinzendorf selbst reiste zu Evangelisationen in verschiedene Länder Europas und initiierte die Aussendung von Missionaren nach Westindien. In Württemberg fand die pietistische Bewegung in Johann Albrecht Bengel (1687-1752) einen Vertreter, der besonders durch die Herausgabe eines bis heute immer wieder nachgedruckten Kommentars zum Neuen Testament („Gnomon“ =Fingerzeig) und eines griechischen Neuen Testamentes bekannt geworden ist; die in dieser Grundtextausgabe von Bengel praktizierten textkritischen Maximen (z. B. die schwierigere Lesart ist der leichteren vorzuziehen) setzten sich durch und haben sich bis heute bewährt. Freilich sind manche Pietisten auch durch schwärmerische Positionen aufgefallen. Bengel etwa hat sich bei seinen heilsgeschichtlichen Spekulationen trotz der eindeutigen Aussage Jesu in Matthäus 24,36  zur Berechnung der Wiederkunft Christi hinreißen lassen und 1836 als Jahr der Parusie angegeben. 

Tiefe Spuren der Erweckungsbewegung

Trotz solcher Irrungen hat der Pietismus mit seiner Betonung auf Herzensfrömmigkeit und tätiger Nächstenliebe tiefe Spuren in der Volksfrömmigkeit und im kirchlichen Leben hinterlassen und in der über hundert Jahre später einsetzenden Erweckungsbewegung eine Renaissance erlebt. Ihre Blütezeit begann nach 1815. Die Erweckungsbewegung kann als Reaktion auf die damaligen, von Aufklärung und Rationalismus geprägten kirchlichen Verhältnisse verstanden werden. Sie nahm in Deutschland keinen einheitlichen Verlauf. Manche Landschaften wurden von ihr entscheidend beeinflusst, andere blieben gänzlich unberührt. Besonders dort, wo bereits pietistische Versammlungen bestanden (in Württemberg, am Niederrhein, im Bergischen Land und im Siegerland), fand die Erweckungsbewegung vorbereiteten Boden und breitete sich rasch aus. Als Folge der erwecklichen Aufbrüche wurden einerseits die noch von der pietistischen Bewegung her bestehenden Kreise belebt und andererseits viele neue Versammlungen gegründet. Diese schlossen sich zu überregionalen Verbänden zusammen (z. B. 1863 der Herborn-Dillenburger Verein), die ihrerseits 1897 als ihre Dachorganisation den Gnadauer Verband ins Leben riefen, der seine Platzanweisung als freies Werk in den evangelischen Landeskirchen sieht und dort durch Evangelisation und Gemeinschaftspflege Reich Gottes bauen will. Im Zentrum dieser Gemeinschaftskreise stand – wie schon im Pietismus – das Studium der Heiligen Schrift und das gemeinsame Gebet zur persönlichen Auferbauung.

Gründung der Allianz

Doch war es den erweckten Christen auch ein dringliches Bedürfnis, Nichtchristen das Evangelium zu bezeugen. So kommt es zur Gründung mancher Werke der Inneren (z. B. 1833 Rauhes Haus in Hamburg) und Äußeren Mission (z. B. 1849 Hermannsburger Mission). Auch die Entstehung und rasche Ausbreitung mancher pietistisch geprägter Freikirchen (Freie evangelische Gemeinden, Brüdergemeinden usw.) ist auf die deutsche Erweckungsbewegung sowie auf Einflüsse aus England zurückzuführen. Dort wurde 1846 die Evangelische Allianz gegründet. Die 921 Vertreter aus über fünfzig verschiedenen Kirchen, die sich in London zur Gründungsversammlung getroffen hatten, wollten nicht eine sichtbare kirchliche Einheit mit gleicher Lehre und gleichem Kultus schaffen, sondern einen losen Bund aller, die an Jesus Christus als persönlichen Retter und Herrn glauben. Der Wunsch, als Christen näher zusammenzurücken, entsprang der Entdeckung, dass die Übereinstimmung in Glaubensfragen unter den „evangelicals“ groß genug sei, um viel intensiver als bisher Gemeinschaft zu pflegen. Bis heute vereint die Allianz jedes Jahr Anfang Januar Millionen Christen aus den verschiedensten Konfessionen zum gemeinsamen Gebet.

Heiligungslehre

Knapp 30 Jahre nach Gründung der Allianz fand im September 1874 im englischen Oxford eine Konferenz statt, an der führende Vertreter der deutschen Erweckungsbewegung teilnahmen. Einer der Hauptredner war der Amerikaner Robert Pearsall Smith, der mit seiner Heiligungslehre viel Eindruck hinterließ. Smith lehrte, dass der Gläubige über die Stufen von Rechtfertigung und Heiligung zu dem höheren christlichen Leben gelangen könne. Darunter verstand Smith, dass der Gläubige durch Christi Erlösung nicht nur die Vergebung seiner Schuld, sondern auch die Befreiung vom Zwang zur Sünde erlangen könne. Diese Lehre fand in den folgenden Jahren auch in den pietistischen Gemeinschaften in Deutschland Eingang und erlebte im Zwei-Stufen-Heilsweg der Pfingstbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt.

Pietistisch gleich evangelikal?

Pietismus und Erweckungsbewegung kannten nicht den Begriff evangelikal, doch die evangelikalen Anliegen vertraten sie mit Nachdruck. Der Begriff selbst kommt erst durch Kontakte deutscher Pietisten mit US-amerikanischen Evangelikalen nach Deutschland. In den USA wurden pietistisch geprägte Gläubige schon vor dem Zweiten Weltkrieg als evangelicals bezeichnet. Nach 1945 erlebte die evangelikale Bewegung in Nordamerika einen großen Aufschwung. Evangelikal geprägte Colleges und Seminare wurden gegründet, die Buchproduktion evangelikaler Verlage stieg stetig an und evangelikale Missionswerke entsandten Mitarbeiter in alle Teile der Welt. Von 1953 an kam der Baptistenprediger Billy Graham mehrfach nach Deutschland und predigte in Fußballstadien vor bis zu 60.000 Menschen. Er selbst und auch andere nordamerikanische Organisationen wie „Campus für Christus“ und das „Janz Team“ verstanden und verstehen sich als evangelikal und gaben den deutschen Pietisten den Impuls, sich selbst als in evangelikaler Tradition stehend zu erkennen und durch die Übernahme dieses Begriffs auch terminologisch den Anschluss an die im angelsächsischen Raum schon zu einem breiten Strom angeschwollene evangelikale Bewegung zu vollziehen. Diesen Anschluss an die weltweite evangelikale Bewegung haben die deutschen Pietisten in den vergangenen 40 Jahren vollzogen und dabei mehr und mehr den Begriff Pietist durch Evangelikale ersetzt.

Strenge Befürworter von Religionsfreiheit

Das Wurzelgeflecht der Evangelikalen ist also weitgefächert: vom Missionseifer der ersten Christen bis zum sola scriptura (allein die Schrift) und solus Christus (allein Christus) der Reformatoren; von der Herzensfrömmigkeit der Pietisten bis zu Erweckungsversammlungen amerikanischer Evangelisten. Evangelikale wollen abseits von toter Rechtgläubigkeit und liberaler Unverbindlichkeit lebendiges Christsein in der Nachfolge Jesu Christi leben. Sie sind davon überzeugt, dass Jesus Christus der einzige Weg zu Gott ist und dass jeder Mensch die Chance erhalten soll, von Jesus zu hören, um durch den Glauben an ihn ewiges Leben zu erlangen. Nach evangelikaler Ansicht beansprucht der christliche Glaube, die Wahrheit zu sein. Aber er erlaubt jedem, diese Wahrheit nicht anzunehmen. Deshalb gehören Evangelikale zu den strengsten Befürwortern von Religionsfreiheit und wenden sich gegen staatlich verordneten Atheismus genauso wie gegen islamisch initiierte Christenverfolgungen. (idea)