03.12.2008

Religion und Gewalt

Der ungelöste Geburtsfehler Indiens und die verheerenden Folgen

Religion und Gewalt

Der ungelöste Geburtsfehler Indiens und die verheerenden Folgen

 

Wieder einmal halten Terroranschläge in Indien die Welt in Atem. Wie ist es zu erklären, dass gerade in Indien religiös motivierte Gewalt ein solches Ausmaß erreicht? Neben der Massenarmut, der Überbevölkerung und dem allgemeinen Rassismus – etwa gegen niedere Kasten ebenso wie gegen die vielen Stammesvölker – ist das Verhältnis der Religionen untereinander ein seit der Gründung Indiens 1947 ungelöstes Problem. Mahatma Gandhis unrealistischer Traum der Hindu-Muslim-Einheit ging bereits vor und während der Unabhängigkeit Indiens unter. Einmal durch seine Ermordung durch einen Muslim, zum andern vor allem durch die Spaltung in das vorwiegend hinduistische Indien und das fast rein muslimische Pakistan. Die dann folgende ethnische Säuberung Pakistans und andererseits die Vertreibung von Muslimen aus Restindien führten zu einem riesigen Blutbad flüchtender Muslime wie Hindus mit 750.000 bis 1.000.000 Toten. Was Europäern kaum noch bewusst ist: 1947-1954, 1965, 1971 und 1999 kam es zu direkten Kriegen zwischen Indien und Pakistan bzw. muslimischen Terrorbewegungen in Kaschmir, der nördlichsten indischen Provinz, die an Pakistan grenzt und einen hohen Prozentsatz an Muslimen hat.

Lange Spur des Terrors

Doch so sehr der islamistische Terror zu verurteilen ist, so ungern wird darüber gesprochen, dass der politische Hinduismus mitschuld an der Situation ist. Er wird offiziell in der Partei Bharatiya Janata Party (BJP) verkörpert, die zeitweise die Bundesregierung stellte und in einigen Bundesstaaten die Parlamentsmehrheit innehat – mit verheerenden Folgen für die Anhänger anderer Religionen. Diese fundamentalistische Strömung des Hinduismus will zwangsweise den Hinduismus erhalten. Nach ihrer Meinung gehört das Land der Inder nur den Hindus. Vielerorts gelten Muslime als Bürger zweiter Klasse.

Spannungen mit allen Religionen

Deswegen gibt es in Indien nicht nur Spannungen zwischen Hindus und Muslimen, sondern mit allen Religionen. Im Punjab versuchten die Sikhs gewaltsam einen eigenen Staat zu errichten, was 1980 und 1984 von der indischen Armee brutal beendet wurde, worauf ein Sikh-Leibwächter Indira Gandhi ermordete. Das Verhältnis zum Buddhismus ist nur friedlicher, weil viele Hindus den Buddhismus zum Hinduismus zählen. Kommt es aber zu Massenübertritten zum Buddhismus, bekommen auch Buddhisten den Hass zu spüren. Erst wenn man dies sieht, versteht man auch den Zusammenhang mit der erschreckend zunehmenden Gewalt gegen Christen, gegen die seit 1.800 Jahren alteingesessenen Thomaschristen ebenso wie gegen die seit 450 Jahren im Land lebenden Katholiken und die Protestanten, die es seit 250 Jahren gibt. In den letzten Wochen wurden im indischen Bundesstaat Orissa über 50.000 Christen gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben und 350 Kirchen zerstört. Doch in Indien werden Terrorakte von Hindus anders gewertet als solche von Muslimen. Deswegen griff die Bundesregierung wochenlang nicht ein. Auch jetzt gibt es keine gerechte Aufarbeitung des Gemetzels.

Christen sind friedlich

Glücklicherweise zählen die Christen ausnahmslos zu den friedlichen Bürgern und verhalten sich pazifistisch gegenüber Angriffen. In diesem Zusammenhang sei auch einmal die Gleichsetzung von Evangelikalen mit Fundamentalisten in deutschen Medien hinterfragt. In einem Land mit Millionen gewaltbereiten fundamentalistischen Hindus und Muslimen erweisen sich die Evangelikalen als friedlich, selbst wenn sie angegriffen werden. Aber nicht nur das: Sie sind Brückenbauer und Friedensstifter. Dennoch lässt sie die indische Zentralregierung meistens hängen, wenn sie verfolgt werden. Von indischen Politikern ebenso wie von manchen westlichen Medien werden sie als Fundamentalisten verunglimpft. Schade!

Prof. Dr. Thomas Schirrmacher 

(Der Autor, der Religionssoziologe und Ethiker Prof. Dr. Thomas Schirrmacher, Bonn, ist Geschäftsführer des Arbeitskreises für Religionsfreiheit der Deutschen Evangelischen Allianz und Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz.)