04.11.2002

Was eine missionarische Kirche verhindert ...

Die Entwicklungen in der Theologie und ihre Folgen für die Verkündigung der Kirche<br />

Was eine missionarische Kirche verhindert ...

Die Entwicklungen in der Theologie und ihre Folgen für die Verkündigung der Kirche

Ulrich Parzany, CVJM-Generalsekretär in Deutschland, Leiter von ProChrist und Hauptvorstandsmitglied der Deutschen Evangelischen Allianz, hat für die Nachrichtenagentur idea einen Kommentar zu den Hinderungsgründen an der missionarischen Ausrichtung der Kirchen geschrieben, den wir gerne hier wiedergeben:

„Es hat in den letzten Jahren deutliche Impulse zur missionarischen Arbeit von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gegeben. Da war zuerst die Kundgebung der Synode der EKD in Leipzig 1999 „Reden von Gott in der Welt – Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend“. Als Konkretisierung und Weiterführung wurde vom Kirchenamt der EKD im April 2001 die hervorragende Schrift „Das Evangelium unter die Leute bringen – Zum missionarischen Dienst der Kirche in unserem Land“ herausgebracht. Auch die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) verständigte sich auf das Wort „Unser gemeinsamer Auftrag: Mission und Evangelisation in Deutschland“. Was will man also mehr, könnte man fragen? Jetzt müssen wir eigentlich nur noch tun, was wir wissen und was von hoher Stelle als notwendig und richtig erklärt wurde. Warum aber ist bei vielen Pfarrerinnen und Pfarrern und anderen Hauptamtlichen der Kirchen trotzdem so viel Reserviertheit zu spüren? Offener Widerstand gegen missionarische Projekte scheint mir selten geworden. Aber viele machen einfach nicht mit und blockieren, daß ihre Gemeinden sich an evangelistischen Projekten beteiligen.
Was sind die Gründe? Die „unmöglichen“ Methoden der Evangelisation? Und die vielen schlechten Erfahrungen, die man schon in früher Jugend mit Evangelisation gemacht hat? Es hat jedenfalls den Anschein, daß die Vorbehalte gegen Methoden die stärksten Hindernisse für viele Pfarrerinnen und Pfarrer sind. Je länger ich aber darüber mit Kritikern spreche, desto mehr zweifle ich daran, daß es letzten Endes um Methoden geht. Es geht nicht nur um das Wie der Verkündigung, es geht um das Was, um den Inhalt. Um genau zu sein: Es geht letzten Endes auch nicht um das, was wir verkündigen, sondern wen wir verkündigen. Wer ist Jesus? Hat Gott, der Schöpfer und Herr des Himmels und der Erde, sich dem Volk Israel und in Jesus endgültig allen Menschen offenbart? Ist Jesus der Retter der Welt, durch den allein wir Vergebung der Schuld und Versöhnung mit Gott erfahren? Diese Exklusivität paßt den postmodernen Zeitgenossen nicht. Alles sei angeblich gleich gültig. Es gäbe nicht die für alle verbindliche Wahrheit, sagt man. Jeder habe nur seine persönliche Wahrheit. Das ist unsere Zeit. Man kann und muß sich eben damit auseinandersetzen. Solche und ähnliche Herausforderungen gab es für die Verkündiger des Evangeliums seit der Predigt des Paulus in Athen.

Ist Mission nur ein Thema der Öffentlichkeitsarbeit?

Das eigentliche Problem liegt heute tiefer. Es liegt in den Kirchen, es liegt bei ihren hauptamtlichen, theologischen Vertretern. Ich fürchte, wir würden unter Pfarrern heute keine Mehrheit für die Aussage bekommen, daß Jesus Christus der einzige Weg zu Gott ist und daß es lebensrettend für jeden Menschen ist, Jesus kennenzulernen, umzukehren und ihm nachzufolgen. Folglich rückt missionarische Arbeit, wenn es sie überhaupt gibt, mehr in die Nähe der Öffentlichkeitsarbeit und der Mitgliederwerbung zur Bestandserhaltung der Kirche. Sie ist keine Rettungsaktion, sondern eine Werbeaktion. Und ob die sein muß oder nicht, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Sie ist offensichtlich nicht vordringlich. Nach meiner Einsicht gibt es einige nachhaltige Entwicklungen in der Theologiegeschichte der letzten beiden Jahrhunderte, die zu dieser Situation geführt haben. Ich will zwei dieser Entwicklungen kritisch beleuchten.

I. Die radikale historische Kritik an der Heiligen Schrift

Als ich am Beginn der 60er Jahre Theologie studierte, beherrschte die radikale Bibelkritik nicht wenige Theologische Fakultäten. Nein, man wollte die christliche Botschaft nicht durch die Kritik abschaffen. Im Gegenteil, sie sollte von Mißverständnissen entlastet werden. Die kritischen Zeitgenossen sollten das Eigentliche an der biblischen Botschaft kennenlernen. Was aber war das Eigentliche? Jedenfalls nicht die geschichtlichen Tatsachen. Nichts in den Evangelien galt als historisch zuverlässig. Alles war „Gemeindebildung“. Weniger respektvoll ausgedrückt: fromm erfunden. Wunder und Auferstehung waren demnach Äußerungen von persönlicher Glaubensbetroffenheit, die sich der mythologischen Erzählungen und Legenden bediente, weil das Weltbild der Antike es den Menschen damals eben so nahe legte. Angeblich hätten die Autoren der Bibel gar nicht von Tatsachen berichten wollen. Sie hätten nicht bewußt gelogen. Sie hätten gar nicht anders gekonnt, als mit Mitteln des mythologischen Weltbildes, in dem sie lebten, ihren Glauben mitzuteilen. Es sei ihnen gar nicht darauf angekommen, daß Jesus wirklich den Sturm auf dem See Genezareth gestillt hätte, sondern es ginge vor allem um den Glauben, daß er unsere Lebensstürme stillen könne. Warum ich das eine glauben sollte, wenn das andere nicht geschehen ist, konnte mir schon damals keiner richtig erklären.

„Fatale“ Augenzeugen

Rudolf Bultmann, einer der Väter dieser Kritik, nannte es fatal, daß Paulus in 1. Korinther 15 auf die Augenzeugen verweist, die den Auferstandenen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten gesehen hätten (1. Korinther 15,5-8). Er gab damit indirekt zu, daß es den Zeugen des Neuen Testamentes wirklich um Taten Gottes ging, die dem Osterglauben und der Osterverkündigung der Jünger vorausgingen. Nicht der Osterglaube schuf die Osterereignisse, sondern die Ostereignisse begründeten den Osterglauben der Jünger und die Osterverkündigung. Dieser Begründungszusammenhang ist unumkehrbar. Damit kein Mißverständnis entsteht: Ich schätze die historische Arbeit an der Bibel. Gott hat sich in der Geschichte offenbart. Er hat Briefschreiber wie Paulus, Sammler und Redakteure wie Lukas, Beter und Politiker wie David gebraucht, um sein ewiges, gültiges Wort in unsere Zeit und Vergänglichkeit hinein zu sagen. Darum bringt es viel für ein genaueres Verständnis des Wortes Gottes, die geschichtlichen Umstände zu kennen, in denen es gesagt und gehört wurde.

Die Lust am Zertrümmern

Ich kritisiere aber die Anmaßung, mit der ein bestimmtes, eingeschränktes Wirklichkeitsverständnis zum Maßstab dafür gemacht worden ist und immer noch gemacht wird, was als „historisch“, also als tatsächlich geschehen, angesehen werden darf und was nicht. Historisch-kritische Bibelauslegung in diesem letzteren Sinne lehne ich als völlig unangemessen ab. Viele Theologen haben inzwischen eingesehen, daß die radikale Bibelkritik keine „sachgerechte“ Methode ist. Die Zeiten haben sich theologisch gewandelt. Um die historische Kritik ist es stiller geworden. Irgendwie haben die Experten die Lust am Zertrümmern verloren. Nur mit Scherben mag keiner auf die Dauer leben. Das Zusammenkleben ist eben beschwerlich und gelingt meist nicht richtig. Geblieben ist aber ein gewisser Bodensatz im Bewußtsein vieler Theologen, daß es nicht wirklich um Tatsachen in der Bibel geht, sondern um subjektive Glaubenszeugnisse. Geblieben ist die „listige“ Deutung der biblischen Texte: Wenn sie schon keine geschichtlichen Tatsachen berichten, dann aber doch tiefer liegende Wahrheiten, die es zu finden gilt. Früher hat man die Texte existenzphilosophisch gedeutet: Welches Selbstverständnis des Schreibers spricht mich aus dem Text an und fordert mich zur Entscheidung heraus?

Die Deutung aus der Tiefe

Dann kam die Zeit der politischen Deutung, in der Regel marxistisch eingefärbt. Danach kam die tiefenpsychologische Deutung in Mode. Brillant vertreten von dem katholischen Theologen Eugen Drewermann. In den biblischen Texten drücken sich demnach wie in allen religiösen Texten, aber auch in Märchen tiefe Wahrheiten aus, die im kollektiven Unterbewußtsein der Menschheit wie in einem Grundwassersee gespeichert sind. Hier und da wird dieser Grundwassersee angebohrt und das Wasser kommt als religiöse Quelle an die Oberfläche und bildet Oasen in der Wüste. Ob nun christlich oder buddhistisch oder islamisch oder wer weiß was – alles kommt im Grunde aus dem gleichen Grundwasser. Damit bin ich bei der zweiten theologischen Entwicklung, die ich für verhängnisvoll halte.

II. Die theologisch positive Bewertung der Religionen

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war stark von der Theologie Karl Barths bestimmt. Er hatte maßgebenden Einfluß auf die Formulierung der Barmer Theologischen Erklärung der Bekennenden Kirche von 1934, die auch heute noch in einer ganzen Reihe von Evangelischen Kirchen zu den grundlegenden Bekenntnissen gehört. Die erste These lautet: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ Karl Barth dachte radikal von der Selbstoffenbarung Gottes in Christus her. Er bestritt jede natürliche Gotteserkenntnis und lehnte die Möglichkeit einer Anknüpfung des Evangeliums an die natürliche Religiosität des Menschen ab. Religion war für ihn im Licht des Evangeliums ein Ausdruck der Entfremdung des Menschen von Gott. Es gab auch damals Gegenpositionen wie etwa die des Lutheraners Paul Althaus, der eine Uroffenbarung in der Schöpfung von der Christusoffenbarung unterschied. In der Linie dieser Theologie wurde die These 1 der Barmer Erklärung als Häresie (Irrlehre) kritisiert.

Kontra Religion: Karl Barth

Unter dem Einfluß von Karl Barth allerdings galt „Religion“ als ein theologisch negativ besetzter Begriff, der im schroffen Gegensatz zum Evangelium von Jesus Christus und zum Glauben an ihn gesehen wurde. Religion ist der eigenmächtige Versuch des Menschen, zu Gott zu kommen oder sich gar Gottes zu bemächtigen. Aber bei diesem Versuch erreicht er nicht nur sein Ziel nicht, sondern er entstellt und verzerrt auch Gottes Wirklichkeit durch das vom Menschen selbst gemachte Bild. Nach 1945 war Karl Barth hoch angesehen und seine Theologie in breiten Kreisen der Pfarrerschaft wirksam. Das ist inzwischen wieder völlig anders. Man redet nicht von den großen Taten Gottes, sondern von den religiösen Gefühlen und Befindlichkeiten des Menschen. Religion und Religiosität sind theologisch wieder salonfähig geworden. Der Begriff Spiritualität wird nicht selten in einem sehr weiten religiösen Sinn gebraucht und ist durchaus nicht für das geistliche Leben in der Nachfolge Jesu Christi reserviert.

Eine Offenheit für den Islam ist nur ohne Jesus Christus möglich

Damit verbunden ist die Offenheit für viele verschiedene religiöse Erfahrungen, gleich ob sie aus den indischen Religionen, den Naturreligionen oder der Astralreligion (Verehrung der Gestirne als Schicksal bestimmende Mächte) stammen. Ein eindeutiges Gegenüber und eine klare Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf erschien auch mit den Anliegen der ökologischen Bewegung nicht in Einklang zu stehen. Man setzte vielmehr auf die Einheit von Gottheit, Natur und Menschheit, weil der Mensch sich sonst arrogant an der Natur vergreifen würde, wie man meinte. In der Theologie ging es jetzt nicht mehr vor allem um rationale Kritik. Die anderen Religionen wurden und werden auch nicht unter historisch-kritischen Gesichtspunkten gesehen wie die Bibel in den 50er und 60er Jahren. Aber die radikale Kritik an der Bibel und am christlichen Glauben wirken dennoch intensiv weiter. Sie ist gewissermaßen die stillschweigende Voraussetzung des theologischen Denkens geworden. Wenn die Auferstehung Jesu historisch auf den Osterglauben der Jünger reduziert wird, gibt es eben keine gewisse Verkündigung des von Gott durch die Auferweckung als Messias (Psalm 2 und Psalm 110), leidender Gottesknecht (Jesaja 53) und Menschensohn (Weltherr und Weltrichter nach Daniel 7,13f) bestätigten Jesus Christus. Damit aber ist es relativ leicht, sich mit Muslimen über Jesus als Propheten zu verständigen. Die kritische Theologie hat ja im Grunde nichts anderes als der Islam behauptet, nämlich daß die Christen Jesus erst nachträglich und gegen seine eigene Intention zum Sohn Gottes „hochgejubelt“ hätten.
Wenn jede Aussage über Gotteserfahrungen in den Religionen als grundsätzlich authentisch und darum gültig anerkannt werden soll (so der stellvertretende Generalsekretär des Weltkirchenrates, Wesley Ariarajah), dann kann es folgerichtig nur um Dialog zwischen den Religionen mit dem Ziel gehen, daß der Hindu ein besserer Hindu, der Muslim ein besserer Muslim und der Christ ein besserer Christ wird. Weitergeben und weitersagen des Evangeliums von Jesus Christus mit dem Wunsch, der Eingeladene möge umkehren, Jesus vertrauen und nachfolgen und so in Gemeinschaft mit Gott, dem Vater, leben, kann dann nur als unangemessen abgelehnt werden.
Je nach Alter der Theologen findet man heute unterschiedliche „Gemengelagen“ der skizzierten theologischen Ansichten. Die Positionen werden herausfordernd vorgetragen. Es wird oft eine sensible psychologische Religion gepredigt, die für den Nichttheologen schwer als unbiblisch durchschaubar ist und die wegen ihrer Einfühlsamkeit für christlich gehalten wird. Tatsächlich aber ist sie Gesetzespredigt, weil es ausschließlich um das Tun und Verhalten des Menschen geht, für das Jesus ein Modell, eine Chiffre, ein Mythos, ein Impuls ist. Mehr nicht. Und im Grunde auch austauschbar.

Für eine Erneuerung des Pfarrerstandes

Weil Theologie immer auch die Biographie der Theologin bzw. des Theologen widerspiegelt und weil Glaube, Denken und Leben sich immer wechselseitig bedingen, zumindest beeinflussen, brauchen wir nicht nur eine der biblischen Wirklichkeit der Gottesoffenbarung in Jesus Christus angemessene Theologie, sondern auch eine Erneuerung des individuellen und gemeinsamen Lebens in der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus, der sich uns durch den Heiligen Geist selbst bezeugt. Ich habe in den letzten Jahren viele Male erlebt und erzählt bekommen, daß und wie Theologen selber im Vollzug der missionarischen Projektarbeit, der sich ihre Gemeinden angeschlossen hatten, verändert und durch die überraschende Begegnung mit Jesus Christus erneuert wurden. Ich bin tief berührt, wenn ein Hauptamtlicher oder eine Hauptamtliche die Erfahrung einer solchen Erneuerung erzählt.
Wenn das Lebensverhältnis zu Jesus von Liebe und Vertrauen bestimmt ist, muß auch die Theologie gesunden. Ich bin zuversichtlich, weil ich besonders junge Theologinnen und Theologen und auch Hauptamtliche in der Jugendarbeit erlebe, die sich mit Feuer, Begeisterung und liebevoller Hingabe im Dienst für Jesus und die Menschen einsetzen. Schaue ich auf die große Zahl der Menschen, die nichts mit Kirche und Christentum zu tun haben, dann klage ich: „Herr, es sind zu wenige. Bewege die Herzen und Köpfe! Dein Wort ist lebendig und energisch.“ Wir brauchen – um mit dem Neutestamentler Professor Julius Schniewind zu sprechen – eine Erneuerung des Pfarrerstandes.“