23.04.2001

Kritik und Lob fuer niederlaendisches Euthanasiegesetz in Deutschland

Augsburg (ALfA). Der Verabschiedung des niederlaendischen Euthanasiegesetzes folgte in Deutschland eine Welle des Protestes. Als eine "besonders schmerzhafte Niederlage fuer die Menschlichkeit" bezeichnete die Bundesvorsitzende der "Aktion Lebensrecht fuer Alle e.V." (ALfA), Claudia Kaminski, das neue Gesetz. Wo das Recht auf Leben nur eine von zwei erlaubten Optionen sei, da werde jeder rechenschaftspflichtig, der den anderen "Lasten" aufbuerde, weil er Solidaritaet und Hilfe benoetige, sagte Kaminski. Da alle bisherigen Proteste aus dem In- und Ausland bei der niederlaendischen Regierung auf taube Ohren gestossen waeren, seien nun die europaeischen Staatschefs gefordert, erklaerte die Vorsitzende. Vor allem Gerhard Schroeder muesse nun als Regierungschef eines der wichtigsten EU-Mitgliedslaender deutlich gegen den "Freifahrtsschein zur Toetung kranker und alter Menschen" Stellung beziehen, forderte Kaminski.

Der Aerzteverband Hartmannbund bezeichnete das Gesetz der Niederlande als Menschen verachtenden Tabubruch. Aufgabe eines Arztes sei "Hilfe beim Sterben - nicht Hilfe zum Sterben" sagte Sprecher Peter Orthen-Rahner. Auch er sieht auf nationaler wie auf internationaler Ebene nun den Gesetzgeber gefordert. Andernfalls drohe ein "Dominoeffekt". Vor allem die Belgier seien drauf und dran, ein aehnliches Gesetz zu verabschieden, warnte der christdemokratische Europaabgeordnete Peter Liese in der "Frankfurter Rundschau" (Ausgabe vom 11.04.). Ein Wackelkandidat sei, so Liese, auch Daenemark.

Bundesjustizministerin Herta Daeubler-Gmelin (SPD) und Gesundheitsexpertin Monika Knoche (Buendnis 90/Die Gruenen) verwiesen darauf, dass die deutsche Rechtslage keinen Spielraum fuer aktive Sterbehilfe lasse. Das muesse auch so bleiben. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz forderte ebenfalls, dass die aktive Sterbehilfe in Deutschland ein Tabu bleiben muesse. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Medizin-Ethik-Komission Hueppe sagte: "Das niederlaendische Euthanasieprojekt ist ungeheuerlich, es darf nicht in Europa Schule machen."

 

Als einen "Dammbruch" hat der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, die Freigabe der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden gewertet. Eine Gesellschaft, die das Leiden sterbenskranker Menschen durch vorzeitige Toetung aus der Welt schaffe, handele zutiefst unmenschlich, so Lehmann weiter. Niemand habe das Recht ueber den Wert oder Unwert eines menschlichen Lebens zu entscheiden. Aktive Sterbehilfe sei aus christlicher Sicht unannehmbar.

Der EKD-Ratsvorsitzende Praeses Kock kritisierte das niederlaendische Gesetz gleichermassen: "Gottes Gebot "Du sollst nicht toeten" und unsere christliche Ueberzeugung von der Unverfuegbarkeit des menschlichen Lebens stehen der aktiven Sterbehilfe entgegen", erklaerte Kock. Der Ruf nach dem erloesenden Tod sei nicht selten ein Schrei nach Naehe und Begleitung.

Unterdessen bejahen offenbar die meisten Deutschen die aktive Sterbehilfe fuer unheilbar kranke Menschen. Nach einer Umfrage des Instituts fuer Demoskopie Allensbach (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 12.04.) wollen 64 Prozent der Westdeutschen und 80 Prozent der Ostdeutschen einem schwer kranken Patienten im Krankenhaus das Recht zugestehen, vom Arzt eine todbringende Spritze zu verlangen. Gegen die aktive Sterbehilfe haben sich Allensbach zufolge 19 Prozent der Befragten (im Westen) und sechs Prozent (im Osten) gewandt. Auch Christen wollten, so ein weiteres Ergebnis dieser Umfrage, einem Schwerkranken die Entscheidung ueber den Todeszeitpunkt selbst ueberlassen: 68 Prozent der Katholiken und 60 Prozent der Protestanten glauben laut Allenbach, dass bei Schwerkranken Sterbehilfe erlaubt sein sollte. Bei Mitgliedern anderer Konfessionen sollen es sogar 83 Prozent sein.

Dass Alter nicht vor Torheit schuetzt, bewies die Schauspielerin Inge Meysel, die gerne die Mutter aller Zeitgeister gibt. Sie kommentierte den Beschluss des niederlaendischen Senats mit den Worten: "Ich bin ab heute begeisterte Niederlaenderin".


Mit dem niederlaendischen Euthanasiegesetz setzt sich auch der Kommentar von Ludger Wess auseinander, den die "Financial Times Deutschland" (Ausgabe vom 12.04.) unter der Ueberschrift "Tod auf Verlangen der Angehoerigen" veroeffentlichte und den wir hier ungekuerzt dokumentieren:

 

"Als erstes Land der Welt haben die Niederlande ein Gesetz verabschiedet, das die aktive Sterbehilfe, also den Tod durch die Hand des Arztes erlaubt. Damit wird eine Praxis legalisiert, die in unserem Nachbarland schon seit sieben Jahren aehnlich toleriert wurde wie bei uns die Abtreibung: Das Toeten war verboten, wurde aber nicht bestraft, wenn bestimmte Bedingungen eingehalten wurden. Die gelten auch weiterhin: Sterbehilfe soll es nur fuer Patienten geben, die unheilbar krank sind, unertraeglich leiden und daher ihren Tod wuenschen. Missbrauch soll durch das Hinzuziehen eines zweiten Arztes und eine Meldepflicht verhindert werden. Vorbildlich, finden auch viele Deutsche. Die Realitaet jedoch sieht anders aus: Mehr als 1000 Menschen, so ein offizieller Report, wurden in den Niederlanden unter der alten Regelung getoetet, ohne dass sie selbst darum gebeten hatten: Saeuglinge, krebskranke Kinder, Psychiatriepatienten, bewusstlose Menschen und chronisch, aber nicht toedlich Erkrankte. Angehoerige und Aerzte hatten ueber den Kopf der Betroffenen hinweg entschieden - in besonders krassen Faellen hatten Familien ihre pflegebeduerftigen Angehoerigen vor die Alternative "Todesspritze" oder Pflegeheim gestellt. Die auch bei uns gepflegte Vorstellung vom selbst bestimmten Tod, frei gewaehlt als Alternative zu einer quaelenden Existenz an den viel beschworenen Schlaeuchen der Intensivmedizin, ist also eine Fiktion. Hauptmotive fuer den Sterbewunsch, so eine andere Studie, liegen nicht in den oft zitierten unertraeglichen Schmerzen, sondern im Gefuehl der Wuerdelosigkeit und der Angst vor Abhaengigkeit, Hilflosigkeit und Entstellung. Dabei aber handelt es sich um Beziehungsqualitaeten, um das menschliche Verhaeltnis des Sterbenden zu seiner Umgebung. Statt ueber das Toeten sollte also eher ueber das Sterben geredet werden."