23.04.2001

Auf den Punkt gebracht: Zahlen zur Selektion von Menschen in der Petrischale

Berlin (ALfA). "Die PID ist offenbar nicht die humane Alternative zur Abtreibung, als die sie von Befuerwortern gern dargestellt wird. Auch kann sie nicht als Wundermittel fuer Paare gewertet werden, die auf Grund von Erbkrankheiten eine normale Schwangerschaft fuerchten." Das schreibt die Journalistin Martina Fietz in der Tageszeitung "Die Welt". (Ausgabe vom 06.04.) Dabei beruft sich das Blatt auf eine Datenerhebung, auf die der Bundestagsabgeordnete Hubert Hueppe (CDU), stellvertretender Vorsitzender der Enquete-Komission Recht und Ethik der modernen Medizin, hinwies. Wie Hueppe erlaeuterte, hat die "European Society of Human Reproduction and Embryology" die Ergebnisse von 26 PID-Zentren in Europa, den USA und Australien zwischen 1993 und 2000 ausgewertet. Demnach hatten dort 886 Paare die Durchfuehrung einer Praeimplatationsdiagnostik, bei der kuenstlich erzeugte Embryonen einem Gen-Check unterzogen werden, verlangt. "Doch kam es" - so die Welt - "nur zu 123 Geburten, das sind knapp 14 Prozent, mit insgesamt 162 Kindern."

 

Fuer jede dieser 123 Geburten wurden durchschnittlich 74 Eizellen befruchtet (das sind mehr als 9.100 kuenstlich erzeugte Menschen). Von diesen wurden spaeter durchschnittlich jeweils elf auf die jeweiligen Muetter (das sind rund 1353 Kinder) transferiert. Nur Zwoelf Prozent von diesen, naemlich 162, konnten das Licht der Welt erblicken.

In 132 Faellen wurde zusaetzlich zur PID eine invasive praenatale Diagnostik durchgefuehrt, um die PID nochmals zu ueberpruefen, wobei vier Fehldiagnosen entdeckt wurden. Daraufhin wurden zwei der betroffenen Kinder abgetrieben, die beiden anderen Kinder wurden - mit Schaedigungen- zur Welt gebracht.

Darueber hinaus kam es zu sieben weiteren Abtreibungen, nachdem offenbar Schaedigungen bei den Embryonen festgestellt worden waren, die mit der PID zuvor nicht erfasst wurden. Neun weitere Kinder wurden im Mutterleib getoetet um sogenannte hoehergradige Mehrlingsschwangerschaften "zu reduzieren".

Die PID galt Befuerwortern bislang als eine humane Alternative zur Abtreibung. Auch wird fuer die PID das Argument angefuehrt, Eltern mit einem bekannten genetischen Defekt muesse die Chance auf ein gesundes Kind eingeraeumt werden. Der CDU-Politiker Hueppe erteilte solchen Hoffnungen in der WELT nun eine Absage: "Die Zahlen sind ernuechternd und zeigen, dass die PID die Versprechungen in keiner Weise erfuellt."

Mit der PID beschaeftigt sich auch der Beitrag "Nur keine Sentimentalitaeten: Die PID ist ein Testfall fuer die Moral der CDU" von Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (Ausgabe vom 12.04.), den wir hier nur auszugsweise dokumentieren koennen:

"Ein juedischer Witz erzaehlt von einem Rabbiner, der einem verzweifelten jungen Ehepaar ein unfehlbares und moralisch unbedenkliches Verhuetungsmittel empfiehlt. Limonade. Limonade? Vorher oder nachher anzuwenden? Anstatt. Ein Spritzer gemeinen Menschenverstandes taete der biopolitischen Debatte gut. Im Namen des Pragmatismus wird hier mit herbeikonstruierten Extremfaellen operiert: (...)

Wen wuerde eine Laborassistentin aus einem brennenden Krankenhaus retten, drei Zellhaufen oder einen Erwachsenen? Diese Argumentationsweise verformt die Ethik zu einer Kasuistik, die keine Prinzipien und auch keine Erfahrungsregeln mehr kennt. Die Ethik wird zur Sache der Ethikkommissionen, fuer die jeder Fall ein Grenzfall und jede Entscheidungssituation tragisch ist. Steht im Streit um das Recht des Embryos, nicht getoetet zu werden, die Alltagsplausibilitaet des nachmetaphysischen Weltalters gegen die Sondermoral der Kirchen?

Dagegen spricht, dass elementare moralische Begriffe, wie sie den Alltag praegen, verdraengt werden. Die Befuerworter der Euthanasie, die sich in Holland durchgesetzt haben, leugnen, dass Handeln und Unterlassen unterschiedlich zu bewerten sind: Wie koenne Toeten verwerflich sein, wenn Sterbenlassen geboten sei? Der deutsche Streit um die Praeimplantantionsdiagnostik spitzt sich deshalb zu, weil ihre Befuerworter vergessen machen wollen, dass das Unterlassen ueberhaupt eine Moeglichkeit darstellt, dass es zum Handeln eine Alternative gibt.

In der gestrigen Ausgabe der "Woche" plaediert der nordrhein-westfaelische CDU-Vorsitzende Ruettgers dafuer, "Paaren mit dringendem Kinderwunsch und einem bekannten genetischen Risiko fuer bestimmte schwere Erbkrankheiten" den Zugang zur PID zu eroeffnen. Es ist kein pharisaeischer Tadel des "Anspruchsdenkens", gibt man gegen dieses Plaedoyer zu bedenken, dass nicht jeder Wunsch erfuellbar ist, auch nicht jeder dringende Wunsch. Diese Feststellung vergoetzt nicht das Schicksal und beschneidet nicht die Freiheit, weil sie nicht nur eine empirische, sondern eine normative Tatsache beschreibt. Es gibt Wuensche, deren Erfuellung einen unverhaeltnismaessigen Preis fordern wuerde, den keine Abwaegung mehr ausgleichen kann. (...)

Es spricht freilich gleichfalls nicht fuer die Ehrlichkeit der Debatte, dass man sich auszusprechen scheut, wie dieses Interesse befriedigt werden kann, ohne dass ihm Embryonen und das Embryonenschutzgesetz geopfert werden: Paare, die aus guten Gruenden fuerchten, dass sie ihrem Kind und sich selbst eine Zukunft des unertraeglichen Leides eroeffnen wuerden, sind moeglicherweise gut beraten, erst gar kein Kind zu zeugen. Es gibt kein Menschenrecht auf ein gesundes Kind, weil es ueberhaupt kein Menschenrecht auf Kinder gibt.

Das klingt hartherzig. Nur mit fuenfzig bis hundert PID-Faellen im Jahr rechnen Ruettgers und seine Verbuendeten. Die kleine Zahl erhoeht scheinbar die moralische Dringlichkeit. Man koennte die Betroffenen in einem Saal versammeln. Wer will ihnen ins Gesicht sagen, der Staat muesse ihnen ihren Lebenswunsch verweigern? Die Avantgardisten der biopolitischen Liberalisierung treten gemeinhin als Apostel eines nuechternen Empirismus auf, um dann doch - Euthanasie als Schulbeispiel - die Barmherzigkeit als den Trumpf auszuspielen. Da werden die Tabuentsorger und Ballastabwerfer ploetzlich sentimental. Zur Sachlichkeit in der Ethik gehoert aber die Kraft der Abstraktion, die Faehigkeit, den Anderen auch dort zu erkennen, wo das eigene Auge ihn nicht sieht - und sei es in der Petrischale. (...)

Das Embryonenschutzgesetz, das eingefuehrt wurde, um der PID einen Riegel vorzuschieben, soll fallen. Es ist Augenwischerei, wenn Ruettgers schreibt, dass die PID "in Einzelfaellen moeglich" sein solle. Solche Einzelfaelle kennt das Recht nicht. Ruettgers sollte offen sprechen: Im Regelfall soll die PID moeglich sein, beim Verdacht auf bestimmte Krankheiten. Man faellt nicht in Verschwoerungsdenken und muss nicht das Schreckgespenst der "Biomacht" an die Wand malen, wenn man die Diskrepanz zwischen der verschwindend geringen Zahl der Faelle und der symbolischen Bedeutung des Themas im Wettstreit der Politiker um die Aura der Modernitaet fuer bemerkenswert haelt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft befuerwortet die PID; die Barmherzigkeit gehoert nicht zu ihren Satzungszwecken.

Auf dem von Ruettgers skizzierten Weg ist die Ausweitung jedenfalls schon vorgezeichnet. In einem Interview mit der Katholischen Nachrichtenagentur hatte der einstige Zukunftsminister vor einigen Wochen einen Wegweiser aufgepflanzt: "Ich halte eine gesetzliche Regelung fuer notwendig, die parallel zur Beschreibung der Konfliktlage beim Paragraphen 218 die Bedingungen fuer eine PID festlegen muss." Diese Aeusserung war weithin, auch in dieser Zeitung, so interpretiert worden, dass Ruettgers wie die Bundestagsabgeordneten Margot von Renesse (SPD) und Andrea Fischer (Buendnis 90/DieGruenen) fuer das Modell "rechtswidrig, aber straffrei" eintrete. Dass die Abtreibung auf dem Papier rechtswidrig bleibt, schreibt sich die Union ja gerne als historisches Verdienst zu. Eine grosse Koalition schien sich nach Ruettgers Vorstoss abzuzeichnen, die schon die Durchwinkelemente in Auftrag gegeben hatte. (...)

Ruettgers traegt vor, dass die Erbkrankheiten, die durch PID auf dem Wege der Toetung des Traegers "vermieden" werden sollen, regelmaessig eine medizinische Indikation gemaess dem Befund der Praenataldiagnostik begruenden. Frueher oder spaeter, so die zynische Logik dieses christlichen Politikers, wird der behinderte Embryo ohnehin getoetet; da ist es doch ein Gebot des Mitleids, es frueher zu tun - und natuerlich schmerzlos. Darf man erwarten, dass Ruettgers sich in der Konsequenz seines Ansatzes nun auch fuer die Legalisierung der Euthanasie einsetzen wird? Selbstverstaendlich, wie bei der PID, nur "bei streng gestellter Indikation, bei engem Indikationsspektrum und nach qualifizierter und unabhaengiger Pflichtberatung".

Die strenge Stellung wird Ruettgers jedenfalls kaum lange verteidigen koennen. Denn eine Parallelloesung zur medizinisch indizierten Abtreibung ist nur denkbar, wenn medizinische Gruende die Verwerfung des Embryos rechtfertigen. Die Mutter selbst muss, wie Kuhlmann messerscharf darlegt, als krank eingestuft werden. Fuer Ruettgers geht es bei der PID nur um eine Ergaenzung "der etablierten Praxis der herkoemmlichen Praenataldiagnostik". (...)

Der PID zuliebe waere auch die Frau, die das moeglicherweise kranke Kind noch gar nicht im Leib traegt, als pathologischer Fall zu behandeln. Dann waere vollends nicht mehr von der koerperlichen, sondern nur noch von der seelischen Gesundheit die Rede, und was dann als "unzumutbar" zu gelten haette, waere durch eine Liste der schlimmsten Erbkrankheiten nicht abschliessend zu regeln. (...)"